Mein Jahr als Mörder
sprach der Engel aus London, lachte und umarmte mich. Dann küsste er Catherine auf die Wangen, nahm sie in die Arme, länger als mich, und servierte seine Komplimente. Wir hatten uns schnell gefunden im Gedrängel der Gäste, ein Fest in Brunos Wohngemeinschaft.
Hugos Frage war mehr Scherz als Vorwurf, trotzdem meinte ich mich rechtfertigen zu müssen, da ich den seltsamen Freund drei oder vier Wochen nicht gesehen hatte.
- Why do you work all the time?
In diesem Augenblick, in der Sekundenpause zwischen zwei lauten Songs, flog mir aus einem Gespräch, das in meinem Rücken geführt wurde, der Satz zu:
- Ganz einfach, im Blauen Stern am Stutti.
Ich begriff sofort, dass von Waffen die Rede war, und drehte mich um, wollte sehen, wer hier Bescheid wusste. Der strafende Blick eines kleinen Blonden verriet mir, dass er der Experte war. Ich schlug Hugo vor, in ein ruhigeres Zimmer zu gehen. So schlimm sei es auch wieder nicht, antwortete ich, Lesen und Schreiben seien keine Strafen, und prägte mir ein: Blauer Stern, Stuttgarter Platz.
- When will you start living?
Eine komische Situation: In Gedanken an die Pistole, die Tatwaffe, sollte ich mit Hugo über mein Leben sprechen, bei lauter Musik, zwischen fünfzig, sechzig Leuten, an Brunos Geburtstag. Catherine war nicht mehr in unserer Nähe.
- What's your idea of life?
Eine gute Frage an einen Mörder in spe, ich wich aus, obwohl niemand Verdacht schöpfte, nicht einmal Catherine, Hugo schon gar nicht. Seine Beharrlichkeit wäre nicht auszuhalten gewesen, wenn er uns nicht mit schwärmerischer Freundlichkeit bestochen hätte. Jeder andere gab sich zufrieden, wenn ich sagte: viel zu arbeiten. Überall schossen Arbeitsgruppen, Arbeitsgemeinschaften, Arbeitsausschüsse aus dem Boden, wurden Arbeitspapiere und Arbeitsprogramme erstellt, auch ich konnte mit ein bisschen Papier und einer Schreibmaschine von der Idolisierung der Arbeit profi-tieren. Das Studium diente als Tarnung für die Groscurth-Forschungen, und hinter den Buchplänen ließen sich die Mordpläne leicht verbergen. Der zweifelhafte Ruf, ein fleißiger Mensch zu sein, war mein bester Schutzschild. Und da ich mit meinen Ideen nicht hausieren ging, war die Täuschung perfekt.
Nur der Engel aus London ließ sich davon nicht einschüchtern und brachte mich ins Wanken, als er mit lächelnder Strenge über mein Leben sprechen wollte. Er holte zu einem längeren Vortrag aus über den Genuss, die seelischen Bedürfnisse, die Beschleunigung der Gefühle, über Seneca und Buddha und die komischen Deutschen, über die noch komischeren deutschen Studenten und ihren Fanatismus. Radikalität sei wunderbar, aber nicht die aufgeregte Ernsthaftigkeit dabei.
Gern hätte ich ihm geantwortet: Du hast ja Recht, so hab ich auch gedacht, als ich in London war, aber du kommst aus Kalifornien und nicht vom schändlichsten Fleck auf Europas Landkarte, aus einem unrettbar in seine Vergangenheiten verstrickten Land, das dich, ob du willst oder nicht, in seine Abgründe zieht, in die Nazisümpfe, die niemand trockenlegen oder umgehen kann, die uns in die Arbeit fliehen lassen und mich sogar zum Mörder machen!
Auch ich sei fanatisch, ein Fanatiker der Zurückhaltung, meinte Hugo, ich bliebe verborgen hinter der Stummheit und der Arbeit und wagte es nicht, mein wahres Ich zu zeigen.
Ich wehrte mich nicht, weil er mich auf die Frage gebracht hatte, warum ich vor anderthalb Jahren zurückgekommen war in das kalte, grobe, keifende, käufliche Berlin, wo Polizisten ungestraft friedliche Demonstranten erschießen dürfen, wo das Steineschmeißen zur Religion geworden ist, wo man sich die Schädel einschlägt abwechselnd mit Worten und Knüppeln und dann mit kaputten Schädeln gegen die Mauer rennt. Warum zurück in das Mekka der Unhöflichkeit und der Raubeinigkeit, der Hysterie, des Ernstes und der Niedertracht, warum, überlegte mein wahres Ich, bist du nicht in London geblieben, wo du, wenn was schief geht, wenigstens von Höflichkeit und Humor aufgemuntert wirst?
- Abeut, Abeut, Abeut, sagte der Engel mit hellem kalifornischem Akzent und lachte, als hätte er das große deutsche Rätsel gelöst. Er forderte, den Fanatismus aufzugeben oder wenigstens zu lockern, es gebe so vieles zu entdecken im Leben.
My idea of life, da war ich schon einmal weiter gewesen: Warum nicht Kunstgeschichte statt Nazikrampf, Italienisch oder Meteorologie statt Kaltem Krieg, irgendwas Heiteres, Leichtes studieren, die Oper oder das Rokoko, und wenn
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