Mein Jahr als Mörder
für sich, Andeutungen von Flugblättern hörten. Anneliese zu Georg: Das ist idealistisch, das ist idiotisch, lasst das!
Ich hatte sofort das klare Gefühl, meinte sie fünfundzwanzig Jahre später: Flugblätter sind das Todesurteil. Aber wer wagte das schon auszusprechen? Fünf Wochen später war alles vorbei.
Auch in der E. U. gilt: Widerstand ist Männersache, Frauen sind furchtsam von Natur, brauchbare Helferinnen, leider zu ängstlich.
Das Verbrechen des Friedens
Beim Entfalten und Erschlüsseln der Motive für meinen verjährten Mord muss ich nicht nur durch das dreckige Dutzend der Nazijahre streifen. Viel weiter weg scheint das schwierige, abschüssige, wenig beleuchtete Gelände der vergessenen Konflikte der Nachkriegszeit, die Steinzeit der Demokratie. In einer der dunkelsten Ecken jener Jahre steht die Frau, die mir Nils Holgersson geschenkt hat. Sie wartet darauf, dass ich ihre Geschichte erzähle.
Dr. Anneliese Groscurth, 40 Jahre, Witwe, der Mann von den Nazis enthauptet, zwei Söhne, seit 1946 im zerstörten, hungernden, von der Blockade gebeutelten Berlin leitende Amtsärztin in Charlottenburg, dazu eine kleine Kassenpraxis, welche Gedanken treiben sie, sagen wir im Jahr 1950 oder 51, jeden Morgen, jeden Mittag voran? Die Kinder durchbringen, eine gute Ärztin sein, nicht mit dem Schicksal hadern. Also nicht zu oft weinen, dass die Alliierten genau ein Jahr zu spät anrückten, um Georg vor den Henkern zu retten. Nicht jeden Tag in stiller Wut auf die Dummheit mit den Flugblättern schimpfen. Nicht jedes Mal wieder mit Grete Rentsch und Maria Richter spekulieren, wie die Gruppe aufgeflogen sein könnte. Nicht zu oft an den Vater denken, der sich aus Gram über die Hinrichtung seines Schwiegersohns und aus Scham, anfangs den Nazis geholfen zu haben, im Februar 1945 erschossen hat. Nein, nach vorne schauen und, wenn es schwierig wird, von Georg Hilfe holen. Gute Du, mit dem edlen lieben Herzen, Du wirst es richtig tragen, verzage nie. Denke wie ich immer alles gemacht hätte.
Auf alles, was Politik heißt, kann sie verzichten. Sie hat nur einen Grundsatz, den selbstverständlichsten: keinen Krieg und keine Nazis.
Aber das wird von Monat zu Monat immer weniger selbstverständlich, weil ein Herr Stalin in Moskau und ein Herr Truman in Washington andere Ideen haben als sie. Die Gegner Hitlers sind Feinde geworden, sie stellen neue Regeln auf und diktieren, was gut ist. Die Grenze zwischen Gut und Böse wird neu gezogen, sie verläuft zwischen Ost und West und mitten durch Berlin. Die Wortführer auf beiden Seiten halten sich für die einzig Guten und die ändern für böse, und wer diese schlichte Aufteilung der Welt nicht mitmacht, wird schnell zum Feind, egal, ob in Ost oder West. Das gefällt ihr nicht, eine Ärztin hat keine Feinde. Sie will sich, ihre Familie, ihre Stadt und ihr Land nicht spalten lassen. Sie lebt auf der Seite des guten Westens und sieht zwischen den wenigen anständigen Leuten viele Nazis herumlaufen. Die auf der östlichen Seite, die sie für ihre Feinde halten soll, gefallen ihr etwas besser, weil sie wenigstens die Nazi-Verbrecher verjagen, aber sie sind zu hart mit ihrem Sozialismus.
Sie lebt in der Lindenallee im schönen Westend, die Blockade ist über standen, die Versorgung wird besser, das Reich der Henker ist versunken. Sie vertraut Georgs Stimme: Vergiss den albernen Kleinkrieg, die aufschäumenden Ideologien, bleib bei unsern Prinzipien, nie wieder Krieg, nie wieder Nazis.
Annelieses Pech ist, dass auch die Machthaber in Ostberlin behaupten, für den Frieden und gegen die alten Nazis zu sein. Ulbricht und seine Genossen verstehen sich als Friedensfreunde und Antifaschisten, das ist ihre Trumpfkarte in den deutschen Verfeindungsspielen. Darum unterstützen sie das im Westen entstandene Projekt einer Volksbefragung in ganz Deutschland: Wollt ihr Frieden, seid ihr für die deutsche Einheit, seid ihr gegen die Remilitarisierung und die alten Nazis? Anneliese hat alle Gründe, Ja zu rufen.
Nun wäre alles in Ordnung, wenn auch die Machthaber im Westen für Frieden, deutsche Einheit und gegen Nazis wären oder es zumindest in ähnlicher Sprache behaupten würden.
Aber, und das ist Annelieses zweites Pech, sie sind es nicht, sie schlagen grobe Töne an. Sie sind vor allem gegen diese Befragung, weil die von Ostberlin organisiert sei, also propagandistisch, kommunistisch, antidemokratisch. Das sagen sie im Radio, das lassen sie drucken, als müssten sie vor der Pest
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