Mein Jahr als Mörder
warnen. Trotzdem gibt es Hunderttausende, die mit Ja unterschreiben.
Am 28. April 1951 sitzt Frau Groscurth in einem Kreis von zwanzig Frauen und Männern, die einen Berliner Ausschuss für die Volksbefragung gründen. Vorsitzender wird der Dramaturg des Schillertheaters, Schmitt. Sie wehrt sich dagegen, als Stellvertreterin gewählt zu werden, und gibt nach. Schmitt will am 2. Mai eine Pressekonferenz abhalten, öffentliche Säle sind zu teuer, die Männer und Frauen, die für den Frieden sind, haben keine großen Wohnungen, also bleibt das Wartezimmer ihrer Praxis.
Inzwischen hat man in Bonn beschlossen, die Volksbefragung zu verbieten, weil sie ein massiver Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung sei. Am 30. 4. 1951 übernimmt auch der Senat von Berlin das Verbot. Kein Problem für die frisch gekürten Demokraten, alle Organisationen und Gruppen, welche die Volksbefragung befürworten und unterstützen, gleich mit zu verbieten.
Sie begreift es nicht: Es müssen doch alle für den Frieden sein! Die Parteien hier im Westen, warum verfolgen sie die Leute, die gegen den Krieg sind, das kann doch nicht wahr sein! Und was ist schlecht an der deutschen Einheit, was hat der Westen dagegen? Und warum wollen sie nichts gegen die alten Nazis tun, die Georg und Paul und Herbert hingerichtet und 60 Millionen Menschen auf dem Gewissen haben? Warum soll das Ja oder Nein zur Wiederbewaffnung ein Angriff, ein massiver, auf die Bundesrepublik sein? Wenn in Bonn sogar ein Minister namens Heinemann zurückgetreten ist, weil er Adenauers Politik der Militarisierung nicht mitmacht, warum haben die einfachen Leute nicht das Recht zum Protest gegen diese Politik? Hat nicht auch der Bundespräsident Heuss gesagt: Wir brauchen keine neue Wehrmacht? Warum kann man in einer Demokratie eine Volksbefragung einfach verbieten? Was gilt die Verfassung? Warum soll das kommunistisch sein, so zu fragen, wie ich frage?
Niemand gibt ihr Antworten, und doch kommt ihr alles bekannt vor. Sie hat sich von der Gestapo nicht beirren lassen, sie lässt sich auch jetzt nicht beirren. Die Nazis haben sie nicht einschüchtern können, sie lässt sich in einer Demokratie nicht die Meinung verbieten. Erst recht nicht im eigenen Wartezimmer.
Nun hat sie zum dritten Mal Pech, diesmal mit der Presse. Es ist der 1. Mai, an diesem Tag geben die Berliner Zeitungen auf der ersten Seite das Verbot des Senats bekannt. Aus der dpa-Meldung über die sogenannte Volksbefragung macht der eifrige Tagesspiegel: kommunistische Volksbefragung.
Diese kleine redaktionelle Korrektur wird, was sie erst Jahre später begreift, ihr ganzes Leben verändern.
Auf der zweiten Seite veröffentlicht der Tagesspiegel die Namen der Berliner, die den Aufruf unterschrieben haben -als die Befragung noch gar nicht verboten war. Die Ärzte, Künstler, Fabrikanten, Arbeiter, Handwerksmeister, 24 Männer und Frauen sind zum Freiwild erklärt. Frau Groscurth wird als Einzige, weil die Pressekonferenz bei ihr stattfinden soll, mit Adresse und Hausnummer genannt und mit der Überschrift gebrandmarkt: Kommunistenfiliale in Westberlin. Sie meinen ihre Praxis, ihre Wohnung, sie.
Sie bleibt standhaft, sagt den Pressetermin am 2. Mai nicht ab. Ein halbes Dutzend Polizisten steht vor der Tür. Ein Reporter von Associated Press, ein Amerikaner, vermittelt, hier finde keine Versammlung statt, nur ein Pressegespräch, das sei keine Verletzung irgendwelcher Verbote. Auch die anderen westlichen Journalisten sind dieser Meinung, sie befragen Herrn Schmitt, der gibt Auskünfte, die Polizei schreitet nicht ein. Anneliese hört zu, behandelt zwischendurch einen Patienten, nach einer Stunde ist wieder Ruhe. Alles geht glatt, es gibt sie also doch, die Meinungsfreiheit.
Am 4. Mai wird sie ins Bezirksamt Charlottenburg bestellt. Sie ahnt, dass es um die Volksbefragung gehen wird, und steckt die Berliner Verfassung in die Handtasche. Zwei Herren verhören sie und verschweigen, dass ein Disziplinarverfahren eröffnet wurde. Sie klären sie nicht über ihr Recht auf, bei diesem Gespräch von einem Vertreter der Gewerkschaft oder des Betriebsrats begleitet zu werden. Ob sie identisch sei mit der im Tagesspiegel genannten Person? Warum ihre Wohnung eine Kommunistenfiliale sei? Warum sie im Ausschuss für die Volksbefragung mitmache? Warum sie trotz des Verbots die Pressekonferenz zugelassen habe? Am Ende bittet sie um eine Abschrift des Protokolls, die wird verweigert. Sie fragt, was aus dieser
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