Mein Jahr als Mörder
schon Literatur, dann die Londoner Emigranten zum Vorbild nehmen. Keiner in Berlin ist so warmherzig kritisch wie Fried, keiner so erotoman anarchistisch wie Lind, keiner so majestätisch meisterlich wie Canetti, du hast sie doch erlebt, du hast sie schätzen gelernt, die alten Juden, die ihren Kampf mit den Nazis hinter sich haben, Männer mit Würde und Witz. Warum könntest du nicht so einer werden statt ein Rächer der Gerechten, ein Mörder aus Überzeugung? Warum nicht an irgendeiner britischen Universität nach oben streben, an einem Frauen-College eine schöne, intelligente, gut situierte Gefährtin finden und ein freies Leben führen ohne den Dreck und die Teufel der Geschichte und ungestört weiter sehr eiben, sauber gefräste, geschmeidige, schöne lange Sätze, und irgendwann, in zwanzig, dreißig Jahren, wenn die Deutschen unter gegangen sind oder wenigstens ihre Grobheiten abgelegt und die Nazis, die Nazigeister begraben haben, entdeckt und gefeiert werden und dann wie Canetti im Cafe in Hampstead Heath sitzen und mit verschmitztem Blick deutsche Zeitungen lesen ...
Endlich antwortete ich, sagte einiges in dieser Richtung und schlug wie zur Krönung meiner Verteidigung den Taschenkalender 1969 auf und übersetzte Hugo das Motto von Brecht, das ich auf die erste Seite geschrieben hatte und das keinem Dogmatiker und Arbeitsfanatiker gefallen hätte: «Es gibt Leute, die über ernste Dinge nicht lachen können. Das darf man ihnen nicht verübeln, aber man braucht sich auch nicht verbieten lassen, über ernste Dinge zu lachen. Man kann über ernste Dinge heiter und ernst sprechen, über heitere Dinge heiter und ernst.»
Trotzdem fühlte ich mich durchschaut, blieb irritiert, teils von den Waffen, Blauer Stern, Stutti, teils von Hugos Seelenrede, teils von der plötzlich aufgebrochenen London-Sehnsucht. Vielleicht, weil er merkte, dass er übertrieben hatte, legte der Freund seine rechte Hand auf meine Schulter. Er ließ sie einen Augenblick länger liegen, als mir lieb war, griff einmal fest und zärtlich in die Halsmuskeln, berührte auf ebenso entschiedene Weise mein oberes Schulterblatt und zog die Hand ruhig, als wäre nichts gewesen, wieder zurück.
- Wie ist es, fragte ich, in Berlin ständig die Musik deiner Freunde zu hören?
- Sie werden immer besser, sagte er ungefähr, aber sie sind nicht mehr meine Freunde. Sympathy for the Devil, das ist ein großes Gedicht, aber ich mag keine Teufel mehr, die Welt verteufelt sich schon genug. Und Street Fighting Man, das ist ein Song über das lausige, langweilige London, das versteht ihr sowieso alle falsch, das ist ja eure heimliche Hymne, das höre ich hier jeden Tag hinter allen Türen, ob ich will oder nicht. Street fighting, eine Sackgasse, und Mick ist ein Rattenfänger, pass auf. Und wenn ihr denkt, der singt euch was vor über die Revolution, dann täuscht ihr euch, hör mal genau hin, palace revolution, der will eine Palastrevolution, nichts weiter. Mick will die Queen stürzen und selber König werden, er ist ein Monarchist, glaub mir. Aber verrate das keinem! Ich werde übrigens bald wieder fahren, ich ordne meine Sachen in London, dann geh ich nach Indien oder nach Mexiko, wahrscheinlich nach Indien. Kommst du mit?
Die Frage stellte er lachend, strahlend, ein guter Witz, ich lachte mit. Catherine kam hinzu, Hugo erklärte ihr den Grund der Heiterkeit, und als sie ein Gespräch über Mexiko begannen, ließ ich sie allein.
Der Satz über meinen Fanatismus blieb im Kopf. Ich musste mich um die Waffen vom Stuttgarter Platz kümmern und suchte die beiden, die darüber gesprochen hatten. Sie beteiligten sich an einer heftigen Küchen-Debatte um die Selbstverbrennung von Jan Palach in Prag. Auch als frisch ernannter Fanatiker mischte ich mich nicht ein, behielt aber den Satz im Kopf, den der kleine Blonde verkündete:
- Wenn jede Woche sich einer verbrennt, dann geben die Russen nach, bestimmt, man muss nur konsequent sein, konsequent!
Später, nach den Tänzen, in der Nacht, als wir beieinander lagen, schwärmte Catherine von Mexiko, Hugo habe so tolle Geschichten erzählt, sie müsse unbedingt mal nach Mexiko reisen.
- Schade, dass er ein Schwuler ist, sagte sie nebenbei.
Ich weiß nicht, ob ich wirklich so schlagfertig war, wie mein Gedächtnis flüstert:
- Schade, dass er keine Frau ist.
Wildwest-Romantik in der Hardenbergstraße
Alles Spekulationen, sagte Anneliese Groscurth im Januar 1969, ich weiß wirklich nicht, wie die Gruppe
Weitere Kostenlose Bücher