Mein Jahr als Mörder
muss sich, bei aller Vorsicht, so geehrt und geschmeichelt gefühlt haben wie er, dass die große Sowjetunion angeblich Verbindung zur kleinen E. U. suchte.
Niemandem, schon gar nicht uns, die wir keinen einzigen Tag in vergleichbaren Gefahren zugebracht haben, steht es zu, diesem mutigen, verdienten Mann irgendwelche Vorwürfe auf das Grab zu schleudern. Aber um Groscurth, Rentsch und Richter einigermaßen gerecht zu werden, muss es erlaubt sein zu sagen, dass sie keine Romantiker gewesen sind und weder das pathetische Vokabular noch die Anlehnung an den großen Bruder in Moskau brauchten.
Die Gestapo konnte mit ganzer Wucht zuschlagen. Am 3. September wurde Paul Hatschek verhaftet. Ausgerechnet er, der von allen als nicht sehr nervenstark bezeichnet wurde. Bereits im ersten Verhör nannte er die Namen der Gründer der Europäischen Union und ihrer Ehefrauen und sechs Namen aus der kommunistischen Gruppe, der er nahe stand. Die wurden am 5. September festgenommen, bald danach einige der versteckten Juden und die Verbindungsleute zu den französischen, russischen, tschechischen Zwangsarbeitern, insgesamt 55 Frauen und Männer, von denen drei im KZ umgebracht wurden, siebzehn durch Gerichte, die meisten durch den Richter R.
Wie die Vernehmer Hatschek dazu brachten, gleich im ersten Verhör all sein Wissen auszupacken, können wir nur ahnen. Ausgerechnet seine Akte mit dem Verhörprotokoll der Gestapo ist nur teilweise erhalten. Da Hatschek seinerzeit für den sowjetischen Geheimdienst tätig war, werden die weitsichtigen Herren des KGB in den fünfziger oder sechziger Jahren alles vernichtet haben, was das Bild ihres Kundschafters hätte trüben können.
Der 15. August
Anneliese Groscurth, die 40-jährige Ärztin, von einem Tag auf den ändern verfolgt, befeindet, geächtet, verarmt, will keine Kommunistin sein und eine rote Propagandistin erst recht nicht. Aber sie bleibt bei ihrer Meinung. Sie klagt beim Arbeitsgericht gegen die Entlassung und die Verleumdungen. Endlich ist der Terror vorbei, sagt sie sich jede Nacht vorm Einschlafen, endlich anständige Gesetze, Demokratie, Freiheit und eine Justiz ohne Hakenkreuze auf der Robe. Es darf sich wehren, wem Unrecht geschieht. Sogar gegen Behörden, gegen Beamte des Bezirksamts darf man klagen, erst recht als respektierte Amtsärztin, als Witwe eines mutigen Mannes, der gegen die Hakenkreuze und so weiter.
Ihre Argumente im Schriftsatz für das Gericht müssen, denkt sie, jedem einleuchten: Das Bezirksamt hat mehrfach gegen die Disziplinarordnung verstoßen und gegen die Berliner Verfassung. Zweitens, die Kündigung von anerkannten politisch Verfolgten ist nur mit Zustimmung des Senators für Arbeit nach Anhörung möglich, beides ist nicht erfolgt. Drittens, sagt ihr Rechtsbeistand, betrifft der Artikel, auf den sich das Verbot der Volksbefragung stützt, Vereinigungen, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen die Völkerverständigung gerichtet sind - während die Befragung gerade für die Verfassung und die Völkerverständigung eintrete. Acht solcher Rechtsbrüche zählt sie auf - und als Beweis gegen sie dient allein jene kurze, tendenziöse Zeitungsmeldung mit falscher Überschrift.
Das Bezirksamt lässt antworten: Die Verfassung gelte nicht für Menschen wie sie, die beabsichtigten, durch totalitäre und diktatorische Maßnahmen die Verfassung für ihre Zwecke auszunutzen. Die Entlassung fuße auf § 1 Abs. 2 der Dienst-und Disziplinarordnung der Angestellten und Arbeiter Groß-Berlins: Die Beschäftigten haben sich durch ihr Verhalten der Achtung und des Vertrauens, das ihr Dienstverhältnis erfordert, würdig zu erweisen.
Während die Arbeitsrichter sich viel Zeit nehmen, die Argumente beider Seiten zu prüfen, versucht man den Rechtsbruch beim Senator für Arbeit nachträglich zu kitten. Man hört Frau Groscurth an, man erkennt ihre Rolle im Widerstand an -und stimmt am 20.6. trotzdem der Kündigung zu. Mit der großzügigen Geste, man wolle dem Bezirksamt und der entlassenen Amtsärztin die Möglichkeit einer gerichtlichen Ausein-andersetzung geben. Wen kümmert es, dass eine solche nachträgliche Kündigung nicht rechtens ist?
Es kümmert nur sie und den Rechtsbeistand. Einen richtigen Rechtsanwalt kann sie sich nicht leisten, sie braucht auch keinen, denkt sie, ihre Argumente müssen jeden überzeugen. Sie wird krank. Übelkeit, Darmbeschwerden, Kopfschmerzen, Fieber. Sie diagnostiziert einen Infekt, nimmt Medikamente, nichts hilft. Sie
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