Mein Jahr als Mörder
oder vier, nur einer ist gekommen, ein Historiker, der will ein Buch über den VGH schreiben.
- Und, hast du ihm dein Material gegeben?
- Nein, ich geb kein Material aus dem Haus. Die Leute müssen schon zu mir kommen und sich da drüben an den Katzentisch setzen.
Wir standen vor einer breiten, bis an die Decke reichenden Regalwand mit Ordnern, beschriftet mit Namen oder Stichworten. Fränkel, Geiger, Globke, Kiesinger, Oberländer, Speidel, hier waren sie einträchtig alphabetisch versammelt, die Stars der Täter zwischen weit mehr als hundert weniger bekannten Namen. Sprachlos vor der finsteren Poesie des Alphabets der Verbrecher, bewunderte ich Eggstein, der den Stolz des Sammlers nicht verbarg.
- Warum fragst du nicht nach Rathmeyer zum Beispiel, Ankläger beim Volksgerichtshof, bei 52 Todesurteilen dabei, heute Landgerichtsrat in Bayern, von seinem Justizminister geschützt? Oder nach Hoogen, dem Wehrbeauftragten? Oder Ernst Kanter, über 100 Todesurteile und dann Präsident des Senats für politische Strafsachen beim BGH? Hier, die große freie Auswahl, hinter jedem Buchstaben die schönsten Überraschungen. Warum ausgerechnet R., über den jetzt wenigstens ein paar Journalisten schreiben?
Leichte Erregung in der Stimme, resignierter Unterton, ich konnte nicht heraushören, wie ernst er das meinte. Die Hinterhauswohnung war nicht hell, Lampen leuchteten nur schwach, Eggstein kam mir grauhaarig vor, obwohl ich wusste, dass er keine grauen Haare hatte. Ich erklärte mein Interesse an R. wegen Groscurth und den Geschichten, die mich seit der Kindheit begleiteten.
- Ist schon gut, Lyriker! Schnapp dir den R.!
Er bückte sich, reichte mir den Ordner und bot Tee an.
- Alles da, alles im Griff.
An dem Tisch, den Eggstein Katzentisch nannte, sah ich Zeitungsausschnitte durch, Abschriften von R.s Urteilen, Kopien der Ablehnung der Münchner Staatsanwaltschaft, ein Verfahren gegen R. einzuleiten. Meine Frage, welche Beihilfe zu welchen Morden, ging in der Fülle des Materials unter. Merkwürdig die Leidenschaft des Richters, Priester zum Tod zu verurteilen, war er nicht Pfarrerssohn? Ich machte Notizen, schrieb Sätze und Begründungen ab und wurde schon nach einer Viertelstunde von einer lähmenden Müdigkeit erfasst.
Im Ordner Volksgerichtshof Zitate von Freisler: Der Volksgerichtshofwird sich stets bemühen, so zu urteilen, wie er glaubt, daß Sie, mein Führer, den Fall selbst beurteilen würden - Der Richter kann heute zu einer den Aufgaben des nationalsozialistischen Staates gerecht werdenden Beantwortung der Frage nach seinem Verhältnis zu Recht und Gesetz nur kommen, wenn er die Neutralität aufgibt. Die beiden Berufsrichter des VGH wurden von Hitler bestellt, dazu drei bewährte Nazis. Argumente genug, um zu belegen, dass der VGH niemals ein ordentliches Gericht gewesen ist, sondern ein politisches Werkzeug zur Vernichtung der Opposition. Alle Richter waren auf den Führer, nicht auf das Gesetz vereidigt. Warum wollten die Richter am Berliner Schwurgericht, die R. freigesprochen hatten, das nicht wahrhaben?
Mir reichte das, ich wusste genug. Schräg gegenüber saß Eggstein an seinem riesigen Schreibtisch, ich sah ihn mit Schere, Klebstoff, verschiedenen Farbstiften vor einem Packen Zeitungen, sah seine faltige Stirn, seine Blässe, sein graues Haar, das nicht grau war. So hatte er die erste Ausstellung «Ungesühnte Nazi-Justiz» zustande gebracht, 1959 in Karlsruhe, wo es ein größeres Nest von Nazirichtern beim Bundesgerichtshof gegeben hatte. So war er berühmt geworden, weil diese Ausstellung in Berlin verhindert werden sollte und der Rektor der FU den Studenten verboten hatte, Unterschriften zu sammeln für eine brave Bitte an den Bundestag, Richter und Staatsanwälte aus dem Dienst entfernen zu lassen, die Todes- und Terrorurteile gefällt hatten.
Ich hörte, wie hastig er telefonierte, beobachtete, wie hektisch er sammelte, schnitt, klebte, ordnete, ich spürte, wie mit seinem Wissen die Verbitterung wuchs über einen Staat, der diese Mörder in Dienst nahm und mit besten Gehältern und Pensionen fütterte, sah Eggsteins Lust und Verzweiflung, seine Kompetenz und seine endlose Wut und dachte, mitten in diesem Archiv der Sünden, mit verblüffender Klarheit: Nein!
Fast hätte ich dies Nein laut herausgeschrien, so entschieden war ich, nicht zum Erforscher der gesammelten Verbrechen des R. zu werden. Wenn du zu genau arbeitest, fürchtete ich, sitzt du noch zehn Jahre hier, du darfst nicht
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