Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
geteilten, für den Frieden und die Einheit auftreten und dem sozialistischen Staat ein junges, frisches Gesicht geben.
    Dann die Nachrichten des Ostsenders: Einige tausend Jugendliche folgten der Einladung des Kreuzberger Bürgermeisters Kressmann und überschritten in mehreren Gruppen friedlich, Wanderlieder singend, die Sektorengrenzen -wurden von Polizei eingekesselt, mit Schlagstöcken traktiert, von Wasserwerfern nieder geworfen - Hunderte verhaftet.
    Bis Mitternacht hängt sie am Radio und erfährt trotzdem nicht, auf welcher Seite mehr gelogen wird. Der Westen behauptet, mit Kampfliedern und in Formationen sei die FDJ in Blauhemden anmarschiert und habe provoziert. Der Osten: Die westlichen Behörden haben die Teilnehmer, auch die FDJ, in die Westsektoren eingeladen, um sich über Demokratie und Wohlstand zu informieren, das sei eine Falle der Polizei gewesen. Der Westen: Diese Einladung wurde zu einer provokatorischen Kampfdemonstration ausgenutzt, um die Jugend, die es in den Westen ziehe, mit angeblichem «faschistischem Terror» abzuschrecken. Aber warum liefert der Westen dann genau das Schreckbild, das der Osten für seine Propaganda braucht?
    In den folgenden Tagen erfährt sie Einzelheiten. Als die Jugendlichen ein paar hundert Meter weit im Westen waren, sahen sie sich, ohne dass sie eine Aufforderung zurückzugehen erhalten hätten, plötzlich von Polizei umstellt, mit Knüppeln geschlagen, von Wasserwerfern zu Boden geworfen, von LKWs gejagt, mit Revolvern bedroht, in Nebenstraßen gedrängt und verprügelt. Den Fliehenden war der Rückweg versperrt, Polizisten kesselten sie ein und schlugen weiter, auf Köpfe und Hinterköpfe, auf den Rücken, ins Gesicht und manchen Mädchen auf die Brust. Viele wurden in den Bauch und die Geschlechtsteile getreten. Die Gestürzten konnten mit Nachsicht nicht rechnen. Wer entwischte, wurde nah der Grenze, es ging ja oft nur von einer Straßenseite zur ändern, von zivilen Rowdies mit Steinen, Flaschen, ätzenden Säuren attackiert. Hunderte wurden in Polizeirevieren verhört, viele auch dort geschlagen, wenn sie nicht antworten konnten, wer sie angeleitet und bezahlt habe.
    Der schlimmste Einsatz seit den Bombenangriffen, sagen die Kollegen in den Krankenhäusern: Von den über vierhundert Verletzten mussten 132 stationär behandelt werden. Knochenbrüche, Schädelbrüche, stumpfe Verletzungen der Nieren, des Bauches, über fünfzig Gehirnerschütterungen.
    Wenn wehrlose Jugendliche, die für den Frieden eintreten, so traktiert werden und die westliche Presse über die gerechte Strafe jubelt, welche Diagnose wird eine empörte Ärztin stellen, eine Frau, die selbst am Pranger steht?
Am Katzentisch
    Über den freigesprochenen R. wusste ich immer noch zu wenig.
    Heute springt man in Bibliotheken oder ins Internet, mit ein bisschen Übung wird man fündig und hat in einer Stunde mehr Antworten auf dem Papier, als man Fragen gestellt hat. Heute fliegen einem die Informationen zu, damals waren die meisten Quellen verschlossen. Heute ist alles Wissenschaft, damals war die Beschäftigung mit der Nazi-Vergangenheit anrüchig. Man musste aufpassen, nicht als Handlanger des Ostens verdächtigt zu werden. Nach Ostberlin aber wagte ich mich nicht mit den Fragen zu R., ich fürchtete die Braunbuch-Rhetorik und, von Biermann gewarnt, die Stasifallen. Jedes Stückchen Wahrheit musste mühsam zusammengesucht, die Broschüren aus der DDR mit spitzen Fingern durchgesehen werden. Nach dem Auschwitz-Prozess galt das Thema als abgehakt, kalter Kaffee, fast wieder tabu, nur selten wagten sich Journalisten an spektakuläre Fälle. Da und dort gab es Einzelkämpfer, zum Beispiel Eggstein, ein älterer Student, den ich flüchtig kannte.
    Nachdem ich mich telefonisch angemeldet hatte, besuchte ich ihn in seiner Hinterhauswohnung. Gleich beim Ablegen des Mantels fragte er, weshalb ich käme -am Telefon, erklärte er, stelle er solche Fragen nicht mehr, er sei sicher, abgehört zu werden.
    - Was weißt du, was hast du über R.?, fragte ich schüchtern.
    - Sehr originell, sagte er, das wollen jetzt alle wissen.
    Das gefiel mir nicht, ich hatte mir eingebildet, der Einzige zu sein, der sich mit dem freigesprochenen Justizmörder beschäftigte. Fast eine Kränkung. Ich hatte R. zu meinem Opfer erwählt. R. gehörte mir, keinem ändern.
    - Wie viele Leute sind es denn, die sich für R. interessieren?, fragte ich, als wir uns den Regalen seines Arbeitszimmers näherten.
    - Angerufen haben drei

Weitere Kostenlose Bücher