Mein Jahr als Mörder
ahnt, was dahinter steckt. Sie schafft es nicht mehr, den niederträchtigen Angriffen zu widerstehen. Sie will es nicht glauben, aber sie spürt, hört, sieht es jeden Tag: Alle sind gegen sie, außer der Hand voll Leute, die schon gegen Hitler gekämpft haben. Die Söhne werden auf dem Schulhof als Kommunisten beschimpft und schikaniert. Patienten kommen in der Dunkelheit, um nicht denunziert zu werden. Es wird ihr alles zu viel. Sieben Jahre das Versteckspiel gegen die Nazis. Dann fünf Jahre lang pausenlos geschuftet, freiwillig 1946 in den Trümmerhaufen Berlin gezogen, geräumt, geordnet, geholfen, Tag und Nacht gegen die Not, immer im Einsatz, immer zuerst für die ändern, dann für die Kinder und zuletzt für sich selbst. Und wie danken sie das? Warum verfolgen sie eine Verfolgte? Warum bestrafen sie eine von den Nazis Bestrafte?
In ihren Fieberträumen taucht ein Monster auf, hundeähnlicher Körper und mehrere Schlangenköpfe, ein Urvieh, das giftigen Atem aus den Nüstern schickt, sie belästigt, verfolgt, zum Kampf auffordert und mit glitschigen, fauchenden Schlangenköpfen umschlingt. Sie weiß nicht, was schlimmer ist: Wenn sie sich wehrt und einen der Köpfe abschlägt oder mit der Spritze tötet oder erstarren lässt, wachsen sofort zwei neue nach, aber wenn sie sich nicht wehrt, vergiftet sie das Ungeheuer mit seinem Atem. Ein Untier aus den Schulbüchern, die Hydra aus der Sage des Herakles, ein Vieh, das ihr zuletzt in den Nächten im Polizeigefängnis am Alexanderplatz begegnet ist, wenn in der Luft die Bomber brummten und unten im Keller die Vernehmer saßen und hofften, dass die Bomben, wenn sie schon fallen, zuerst die Politischen unterm Dach treffen. Die Hydra, an die sie nie mehr denken wollte, da ist sie wieder.
Als es ihr besser geht, beschließt sie, gegen den Tagesspiegel zu klagen, damit die Denunziation als rote Propagandistin aus der Welt kommt. Da liegt die Wurzel des Übels, die Höhle der Hydra. Man sagt ihr, da stecken die Amerikaner dahinter, das hat keinen Sinn. Aber die Amerikaner, antwortet sie, sind doch für die Wahrheit! Was hab ich geweint, als die Amerikaner uns endlich befreit haben! Und der amerikanische Journalist bei der Pressekonferenz, der fand doch alles in Ordnung!
Ach, Frau Doktor, begreifen Sie endlich, es geht nicht um Sie, es geht um Politik!
Das Bezirksamt verschleppt das Verfahren, antwortet nicht auf ihre Schriftsätze, hält Termine nicht ein, lehnt einen Vergleich ab, so geht der Sommer des Jahres 1951 dahin.
Am 15. August, die Söhne im Schwimmbad des Olympiastadions, schildert sie in einem fünfseitigen Brief an das Arbeitsgericht ihre beiden bescheidenen Einsätze für die Volksbefragung und wie sie vom Bezirksamt hereingelegt wurde. Sie macht das Gericht darauf aufmerksam, dass die Verordnung über das Verbot der Volksbefragung durch den Senat von Berlin bis dato in den Verordnungsblättern nicht erschienen, also nicht rechtsgültig ist, die Entlassung sich darauf also nicht stützen kann. Sie weist daraufhin, dass die Disziplinarordnung, nach der man sie fristlos entlassen hat, für den Fall der Trunksucht, unmoralischen Benehmens oder krimineller Delikte gedacht ist - und aus der Nazizeit stammt. Sie versichert, als Ärztin und aus meinen Erfahrungen in meiner eigenen Familie eine unbedingte Anhängerin der friedlichen Regelung aller menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu sein und kein Mitglied einer politischen Partei oder Organisation. Sie beschwert sich über den Verdienstausfall seit drei Monaten. Mit den sachlich formulierten Argumenten, davon ist sie überzeugt, werden die Richter sie bald aus Albträumen und Hydrakämpfen erlösen.
Abends, die Söhne im Bett, fertigt sie die Reinschrift des Briefs und hört, nach Bach aus dem RIAS, die Nachrichten: Schwere Krawalle durch Provokateure der FDJ in Kreuzberg und Neukölln - mit Kampfliedern marschierten Teilnehmer der so genannten Weltfestspiele der Jugend in die westlichen Sektoren ein - über hundert festgenommen. Sofort hellwach, weiß sie, was das bedeutet: Die Spaltung verschärft sich, das geht auf ihre Kosten. Die Weltfestspiele, die in diesen Tagen im Ostsektor stattfinden, sind Festspiele der Propaganda, auf beiden Seiten. Sie hat sich kaum darum gekümmert, nach Welt und Fest und Spielen, nach roten Fahnen und uniformblauen Hemden ist ihr nicht zumute. Aber sie haben ihre Sympathie, die Jugendlichen, es sollen fast eine Million sein, die in der Trümmerstadt, der
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