Mein Jahr als Mörder
begreift.
Das Gericht hat weiteren Beratungsbedarf, will neue Zeugen vernehmen und setzt einen Termin für den 9. Oktober an.
Noch sieben Wochen! Was denn für Zeugen? Sie fasst es nicht, fühlt sich wie weggespuckt von der Demokratie, verhöhnt von der Freiheit, verlacht vom Recht. Aber eine wie du, sagt sie sich, gibt nicht auf.
Drei Tage später ist Robert wieder da. Sie hört ihn reden, kennt seine Sätze, kann nur noch ihr Ja nicken.
- Bin empört, so dürfen sie mit dir nicht umspringen, das ist ein Skandal, typisch! Sie wollen an dir ein Exempel statuieren. So wie sie am 15. August ein Exempel statuiert haben. Faschistische Methoden. Sie werfen nicht den Dramaturgen Schmitt aus dem Schiller-Theater, einen Mann, der im Krieg Panzerjäger war, sie entlassen dich, eine Frau, die Witwe eines Mannes aus dem Widerstand. Und warum? Weil du sie daran erinnerst, Anneliese, dass nicht alle ja gebrüllt haben, nicht alle geschwiegen haben, deshalb machen sie dich fertig.
- Ach, Robert, hör auf.
Er malt ihr das bessere Leben in einem Staat ohne Nazis aus. Ihre Entscheidung, im Westen zu bleiben, respektiert er. Trotzdem, auch ohne Umzug müsse sie sich entscheiden.
Er zieht, was sie nicht überrascht, einen Aufruf aus der Tasche zur Gründung des Groscurth-Ausschusses. Die Argumente findet sie überzeugend, den Text in Ordnung. Sie kann nicht abseits stehen, das sieht sie ein. Sie tut etwas für Georg, sein Tod soll nicht umsonst gewesen sein. Sie darf nicht nur an sich denken. Robert hat Recht, so wie Robert immer Recht hatte, außer mit den Flugblättern, aber das ist verziehen, und deutlich hört sie Georgs Stimme: Du wirst es richtig tragen, verzage nie. Denke, wie ich immer alles gemacht hätte.
Sie unterschreibt, und ein paar Tage später kann man in der Berliner Zeitung lesen:
Berlinerinnen und Berliner! Am 15. August 1951 wurden zahlreiche junge Teilnehmer an den Weltfestspielen, als sie sich in Westberlin für Frieden und Freundschaft aussprachen und ihre Friedenslieder sangen, mißhandelt. Dies geschah vor den Augen der Jugendlichen der ganzen Welt, was eine besondere Schande für unsere Stadt ist.
Ich bin daher der Ansicht, daß man diese Vorgänge untersuchen und sich für die Verletzten und Inhaftierten einsetzen muß. Deshalb trete ich an alle Berliner in Ost und West heran, besonders aber an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, und bitte um Stellungnahme und Berichte von Augenzeugen und Opfern.
Ich habe meinen Mann, der im Jahre 1944 hingerichtet wurde, durch faschistischen Terror verloren und bin der Meinung, daß sich eine solche Entwicklung nicht wiederholen darf, man also bereits ihren Anfängen entschieden begegnen muß.
Ist Anneliese Groscurth damit zu weit gegangen? Hat sie sich benutzen lassen? Ist sie naiv gewesen? Oder von ihrem Leitsatz verleitet: Mehr an die ändern als an sich denken?
Kaffee, Kuchen und die Väter
Sie gingen nicht mehr zusammen spazieren, die Freunde. Beide Stadtkinder studierten, sahen sich selten, in der Mensa, in Kneipen oder Souterrainwohnungen. Wenn sie aber redeten, setzten sie, als wären sie immer noch auf den Wehrdaer Feldwegen, das Gespräch über den abgehackten Kopf fort, ohne die Worte Kopf und abgehackt zu verwenden. Sogar bei Kaffee und Apfelkuchen in der Konditorei Kammann am Kaiserdamm, neben Messingkleiderständern, Tütenlampen, großblumigen Tapeten, Zimmerpalmen und gerüschten Stores vor breiten Fenstern.
- Siehst du, acht Wochen, schon ist der Nazirichter wieder vergessen.
- Silvester stand ein langer Artikel im Spiegel, über Herrn R. und seine Richter, und neulich ...
- Trotzdem, es versickert, das Thema, wie jeder Skandal versickert.
- Im März kommt das Urteil, und dann ...
- Ach was! Nur wenn wir, ich meine alle Studenten, uns auf den Fall wirklich einlassen, als Paradefall, ist vielleicht was zu gewinnen. Eine Pflichtdemonstration reicht nicht. R. muss ein Dauerthema bleiben. Aber seit sich unsere lieben Kommilitonen überpolitisiert und in Genossen verwandelt haben, ist nichts mehr mit ihnen anzufangen.
Das Stadtkind blieb Stadtkind, deutlich, illusionslos, die Geheimnisse der Psyche studierend. Das Dorfkind war immer noch kein richtiges Stadtkind, idealistisch, defensiv, träumend. Im Cafe mit hellbrauner Holztäfelung in Meterhöhe an der Wand und rostrot gepolsterten Sesseln und Stühlen überlegte es, ob aus ihm ein richtiges Stadtkind geworden wäre, wenn es hier aufgewachsen wäre wie der Freund, schräg gegenüber
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