Mein Jahr als Mörder
mochten.
Wunschflug
Wir hatten uns verabschiedet, doch das abgebrochene Gespräch setzte sich fort, auf dem Mittelstreifen des Kaiserdamms zwischen der Konditorei und dem Lietzenseepark hielt ich inne, erschrocken von einer Erkenntnis, gegen die ich mich nach Kräften sträubte: Wir entkommen den Vätern nicht, selbst wenn sie lange tot sind. Sie regieren in unsere Empfindungen hinein, sogar in die politischen Überzeugungen und Ideale. Axels Vater ist aktiv gewesen, Axel will nicht aktiv werden. Mein Vater ist passiv gewesen, ich will nicht passiv sein.
Der Blick glitt hinunter über das breite, endlose Straßenband, vier Fahrspuren rechts und links und großzügige Bürgersteige, von Bäumen und den wuchtigen Speer'schen Laternen markiert, geradeaus Richtung Osten, kilometerweit die Passanten und die Autos in immer fernerer Ferne zu Punkten schrumpfend. Das Wetter war winterklar, kein Luftdreck behinderte die weite Sicht, und ich versuchte hinter der Siegessäule im hellen Dunst das Brandenburger Tor zu erspähen und dahinter den eckigen Turm des Roten Rathauses im Osten, in der alten Mitte der Stadt.
Als ich mich, zwischen den Autos auf dem Mittelstreifen
stehend, für zwei, drei Minuten der Romantik dieses gradlinigen Blicks hingab, der alle Epochen berührte und auf verbotene Weise vereinte, West und Ost, Preußen- und Nazizeit und die verfluchte, unfassliche Gegenwart, da durchdrang mich, im Sog dieser Sichtachse gefangen, ein neues, noch ganz rohes Gefühl der Freiheit: Häng dich nicht an die Väter, du wirst sie nicht ändern, du wirst die wilde deutsche Geschichte nicht ändern, du wirst es nie schaffen, sie zu korrigieren mit einem kuriosen Mord. Axel hat Recht, dachte ich, leider hat er meistens Recht, auch mit der Gewalt hat er Recht, das ist die neuste Mode und wird eine Weile Mode bleiben, da wird etwas kompensiert, da wird ein Kampf gegen die Väter geführt mit dem Kopf gegen die Wand. Vor einem Jahr wäre meine Tat vielleicht noch eine gute Tat gewesen, aber heute? Gerade weil jetzt so viele für Gewalt sind, wird man in meiner Gewaltaktion nur die Gewalt gegen R. sehen und nicht die Aktion gegen R., und alle, die sich darüber erregen werden, Journalisten, Politiker, Juristen, Studenten, würden meinen Mord nur als Fortsetzung der Kaufhausbrandstiftung und der Schlacht am Tegeler Weg begreifen, die Tat eines Trittbrettfahrers, oder als Rache für Dutschke, drei Schüsse im Fahrwasser des neusten Trends, zur Waffe zu greifen sogar gegen Kammergerichtsräte i. R. Und nicht als eine einfache menschliche Reaktion auf den Freispruch des Mitmörders des Vaters des Freundes.
Ich stand auf dem Kaiserdamm bei dem Haus mit der Groscurth'sehen Wohnung, nicht weit hinter mir im Westend die Ahornallee und die Lindenallee, wo sie früher gelebt hatten, und die Masurenallee, wo Anneliese als Betriebsärztin im Sender gearbeitet hatte, ich stand zwischen den Schauplätzen des geplanten Buches und schämte mich plötzlich, schämte mich für meinen Mord, für den Egoismus meiner Pläne. Ich fürchtete, zum ersten Mal tauchte diese Furcht auf, vielleicht sogar die Freundschaft mit Axel zu gefährden und die Sympathie von Anneliese Groscurth zu verlieren. Was ist, wenn sie kommen und sagen: Das ist nicht in unserm Sinn, diesen feigen Wicht umzubringen, das hätte Georg nicht gewollt, der gestorben ist für ein Leben ohne Menschenhass. Wenn überhaupt, auch diese Überlegung streifte mich, dann hätten Axel und Rolf das Recht zu einer solchen Tat. Es ist nicht deine Sache, ihnen diese Last abzunehmen, dein Mordplan ist anmaßend und wird von allen falsch verstanden werden, und am Ende wirst du die Freundschaft für immer zerstören.
Laut jagten rechts und links die Autos vorbei, mir wurde leichter, ja, ein Mord wäre ein Nachahmungsmord, wäre reaktionär, wäre vielleicht ein Verrat am Freund. Lass das! Ich wurde autoritär zu mir selbst und fühlte mich nach dem strengen Befehl Lass das! befreit und erhoben. Ich stand auf der Höhe und schaute ins Tal hinunter: Sei so frei, kein Mörder zu sein! Frau Groscurth hat dir damals den Nils Hol-gersson geschenkt zum Trost, jetzt schenke ihr das Buch, überlegte ich, ihr Buch, und beschmutze es nicht mit einem Mord.
Da spannte die Phantasie ihre Flügel aus, ich sah mich wie Nils Holgersson fliegen, nicht auf einer Wildgans oder einem anderen Vogel, nur von einer unsichtbaren Kraft getragen im Wunschflug über alles Schwierige, Enge, Ernste hinweggleiten, den
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