Mein Jahr als Mörder
im Eckhaus Kaiserdamm/Witzlebenplatz. Unten ein Altberliner Eisbein-Restaurant Westfalenklause, im zweiten Stock die kleine Wohnung der Groscurths mit Praxis, Lietzenseeblick.
- Proteste, Demonstrationen sind keine Pflicht, sie sind produktiv für die Gesellschaft, behauptete das Dorfkind.
- Ach was, jetzt wird alles von der Frage um die Gewalt beherrscht, damit geht sowieso alles kaputt.
- Aber das ist doch eine Minderheit!
Im Cafe mit dem stabilen Charme der fünfziger Jahre war es angenehm still, hier regierte eine witzige Kellnerin über Kuchen, Kaffeekännchen und Langeweile. Kein Ort für die Aufgeregten, abseits der Gefechte und Scharmützel, eine Oase des Friedens in der von Feindeslust aufgewühlten Stadt. Politik, Polizei und Presse gegen Studenten, die meisten Studenten gegen Professoren, Politik, Polizei, Presse. Die Minderheit der gewaltsamen Studenten gegen die Mehrheit der gewaltlosen Studenten, beide Strömungen einig gegen die Minderheit der unpolitischen Studenten. Professoren gegen Polizisten, Journalisten gegen Politiker und umgekehrt, Professoren gegen Professoren, Politiker gegen Politiker und so weiter, Fronten überall.
Die Freunde trugen keine langen Haare, sahen weder dem in den Kopf geschossenen Dutschke noch ändern Teufeln ähnlich, sie mussten nicht fürchten, von den Alten, die in Kuchenhimmeln schwebten, den Vertretern, die mit Bleistiften über Zahlenkolonnen fuhren, oder zischelnd streitenden Paaren attackiert zu werden. Trotzdem war Vorsicht angebracht. Sie saßen an einem Ecktisch und sprachen leise. So hysterisch war das Klima in der Stadt, die Suche nach Feindschaft, so giftig waren die Frontberichte der Zeitungen, dass die beiden nicht mit politischen Reizvokabeln auffallen wollten.
Gerade die Minderheit, meinte das Stadtkind, mache die Mehrheit kaputt. Ein gutes Dutzend Leute, die Steine schmeißen, reichten völlig, um bei zehntausend ändern die Hoffnungen auf Veränderung zu begraben. Das Gefasel von der Revolution sei nur lächerlich. Seit Dutschke weg sei, herrsche Chaos, und Dutschke sei schon chaotisch genug gewesen. Jetzt sei die Gewalt in Mode, jeder Piefke aus dem dritten Semester wolle gegen die Bullen kämpfen, Barrikaden besteigen, den Staat besiegen. Die APO sei gespalten, eigentlich schon tot. In ein, zwei Jahren der ganze Zauber vorbei.
Trotz der gefährlichen Reizwörter blieb es an den anderen Tischen ruhig. Dort schienen alle Sinne auf Kuchen und Wetter, alle Klagen auf Arztbesuche und Warteschlangen am Postschalter gerichtet. In einer stillen Sekunde hallte ein Satz durch den Raum, den eine Greisin zu ihrem grauhaarigen Sohn sagte, laut und vorwurfsvoll:
- Wenn ich tot bin, willste doch nicht allein an meinem Grab stehen!
Nicht auf uns, auf die alte Frau zielten die bösen Blicke.
- Du hast ja Recht, leider. Aber was können wir tun, um R. zum Dauerthema zu machen?, fragte leise das Dorfkind.
- Wir zwei gar nichts.
- Wenn das Urteil kommt, gibt es neue Proteste, Debatten ...
- Das bewirkt nichts.
- Immerhin hat es bewirkt, dass ich mit deiner Mutter über deinen Vater rede und eure Geschichte auf schreibe.
- In Ordnung. Wie viele Leser gibt es für Gedichte?
- Zweitausend, dreitausend.
- Siehst du, mehr wirst du von dem Buch über meinen Vater auch nicht loswerden. Aber wenn du über seinen berühmtesten Patienten schreiben würdest, den Heß, den verrückten alten Nazi in Spandau, den engsten Freund Hitlers, dann, ja dann kämst du spielend auf hunderttausend oder mehr.
- Verbrecher sind immer gefragt, und über das Böse zu schreiben ist die billigste Kunst. Ich weiß, die stillen Helden haben keine Konjunktur, aber das kann ja noch kommen.
- Optimist!
- Du alter Pessimist, Axel.
- Nein, Realist, mein Lieber.
Axel musste los, zum Augenarzt, und ich konnte mich nicht mehr wehren gegen die undeutliche Vermutung: Sein Vater hat die Politik durchschaut und gekämpft, es hat ihm nicht geholfen. Er war mutig und ist von Feiglingen bestraft worden. Hat Verfolgte vor dem Tod gerettet und mit dem Tod bezahlt. War anständig, das hat ihm den Henker beschert und die Hetze bis heute. Und Axels Mutter, für ein paar Sätze zum Frieden zwanzig Jahre lang als Hexe behandelt. Kein Wunder, dass Axel resigniert.
Diese Logik ahnten wir und waren unfähig, darüber zu sprechen. Stattdessen erregten wir uns beim Hinausgehen über die Kuchenesser und spekulierten, wie viel Prozent der Cafe-Rentner vor dreißig Jahren Hitler bejubelt haben
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