Mein Jahr als Mörder
wie diesen Oberarzt, die einen Privatwagen haben dürfen. Sie biegen in Kirchheim von der Autobahn ab, rasen durch Niederaula, an der Fulda entlang, die Kurven nach Wetzlos hinauf, folgen auf der Höhe mit dem Blick auf den Stoppelsberg der Straße nach Schletzenrod und sehen das Zieldorf, von Wäldern fast eingekesselt, in der Senke liegen, ein schiefergrauer Zwiebelturm in der Mitte.
Ich gebe zu, es stört mich jedes Mal wieder die Vorstellung, in dieser freundlich gehügelten Landschaft zwischen Kuhweiden, Stoppelfeldern und Fachwerkhäusern Gestapolümmel und andere Hakenkreuzknechte herumkutschieren zu sehen. Als passten hier keine Stiefelmenschen hin und nicht die üblichen Schandtaten. Als wäre die Illusion einer heilen hessischen Welt zu verteidigen. Oder als wüsste ich nicht, dass gerade die Leute in dieser Gegend bei der Verhöhnung und Vertreibung ihrer jüdischen Nachbarn besonders eifrig gewesen sind.
Es hilft nicht, die Gestapoleute sind nicht aufzuhalten, sie fragen hinter dem Ortsschild eine Alte nach dem Hof der Dörings, fahren um den Kirchplatz und halten hinter dem Pfarrhaus vor dem ersten Bauernhaus zwischen Vorgarten und Misthaufen. Der Fahrer bleibt draußen mit dem Auftrag, Haus und Scheune und den Gartenweg zum benachbarten Pfarrhaus zu beobachten, wo Groscurths Schwiegermutter wohnt. Die beiden ändern Polizisten sichern die Pistolen, betreten ohne zu klopfen das Haus und landen in der Bauernküche.
Sie tragen lange schwarze Ledermäntel und breitkrempige Hüte, die sie nicht abnehmen, sie lassen die Pistolen sehen, einer bellt:
- Wer ist hier der Groscurth?
Die ganze Familie beim Abendessen, auf den Tellern Kartoffelsalat, alle erstarren, auch die Fremdarbeiter. In der Küche ist es dunkel und warm, um den Herd Fliegenfänger und Schwärme von Fliegen. Das Bild, sagte später eine Zeugin, wirst du das Leben lang nicht los: Die Männer mit den langen schwarzen Ledermänteln in der Tür, der Kartoffelsalat, der leckere Kartoffelsalat mit Speck und Gurken auf dem Teller, er duftet dir in der Nase, du hast die Gabel in der Hand und traust dich nicht zu essen, keiner traut sich zu essen.
- Na, wird's bald, Herr Doktor? Und wer ist hier Frau Doktor?
Vater Döring fasst sich zuerst:
- Sie sind nicht hier.
- Na, wo habt ihr sie denn versteckt?
- Meine Herren, sagt Döring, gehen wir ins Wohnzimmer.
Jakob Döring, fast jede Nacht von Albträumen in die Stellungskämpfe und Schützengräben des Ersten Weltkriegs geschickt, ist stellvertretender Bürgermeister, der sich, wie es heißt, nach langem Sträuben als Ortsbauernführer, einer muss es ja machen, und Propagandaleiter, steht nur auf dem Papier, hat einsetzen lassen. Ein Nazi, der seinen Kindern antisemitische Sprüche verbietet. Ein Nazi, der seinem Schwager Georg mehr traut als der Partei. Der nichts dagegen hat, dass seine Frau Lebensmittel nach Berlin schickt, ohne zu wissen, für wen. Auf dem Sofa des Wohnzimmers hat Georg ihm und dem Baron Campenhausen von der Vernichtung der Juden und der hoffnungslosen Kriegslage berichtet, die Tür geschlossen, kein Kind durfte im Flur sein. Noch vorgestern hat Jakob zu Georg und Anneliese gesagt: Ihr habt doch Pässe, flieht, noch ist Zeit, geht in die Schweiz, wir sorgen für die Kinder. Nein, hat Georg geantwortet, ich hab doch nichts Böses getan. Und ist mit Anneliese am Morgen zu seinem Vetter nach Weißenhasel bei Bebra gefahren.
- Na, wird's bald, Ortsbauernführer? Die Herren wollen sich nicht setzen.
- Er ist mein Schwager, da kann ich nichts zu sagen. Die Herren wollen nichts trinken.
- Dann sind Sie selber dran, noch nie was von Sippenhaft gehört?
- Sie sind gestern los, keine Ahnung wohin, ja, sie sind plötzlich abgereist.
- Das Dorf ist umstellt, Ortsbauernftihrer, wir werden Ihr Haus durchsuchen.
- Bitte, suchen Sie, meine Herren, sie sind nicht hier.
- Und in der Scheune?
- Da sind sie nicht.
- Na, dann werden wir das mal prüfen und stecken mal Ihre schöne Scheune an, wie war die Ernte dies Jahr?
Einer geht ans Fenster, öffnet es und ruft dem Fahrer zu:
- Böhme, fangen Sie mit der Scheune an!
- Sie sind heut Morgen nach Weißenhasel zu seinem Vetter Heinrich Groscurth, der hat die Mühle.
- Warum nicht gleich so! Und wenn Sie die Geheime Staatspolizei belogen haben, kommen wir heut Nacht noch zurück, dann packen Sie schon mal die Zahnbürste ein, Ortsbauernführer. Und denken Sie bloß nicht, Sie könnten jetzt nach Weißenhasel telefonieren, Ihr Telefon
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