Mein Jahr als Mörder
Prozessvertreter des Senats die Antwort:
- Die Klägerin beruft sich auf ihre Eigenschaft als Opfer des Faschismus. Das habe ich schon gern, wenn jemand sich bei uns als Opfer des Faschismus beruft!
Kein Richter fällt ihm ins Wort.
- Vergleichen Sie bitte Ihre Tätigkeit für den Frieden mit der Handlung eines Arztes, der seinen Patienten vergiftete Impf-ampullen verabreicht!
Die Richter lassen auch solche Sätze zu. Schon hat sie ihn wieder im Ohr, den Freislerton, und fragt sich, ob das jetzt hysterisch ist, im Arbeitsgericht den Freislerton zu hören.
Es sei zweifelhaft, ob eine Ärztin wie sie sich auf humanitäre Ziele berufen könne, da die von ihr unterstützte Richtung, sagt der tückische Dr. jur., mit der Blockade Westberlins die Zufuhr von Medikamenten und Nahrungsmitteln unterbunden habe. Er macht sie für die Blockade der Sowjets verantwortlich, die sie verabscheut hat! Das Recht auf freie Meinungsäußerung gelte nicht für Leute, die als kommunistische Agenten auftreten. Agenten sagt er? Ja, Agenten sagt er und holt zum Triumph aus:
Beweis sei der Aufruf zur Gründung eines so genannten Groscurth-Ausschusses zur Unterstützung der Opfer des angeblich brutalen Überfalls der Westberliner Polizei auf Teilnehmer der Weltfestspiele. Zweitens die Mitarbeit im Präsidium des Ausschusses, der den Senat, die Bundesregierung und die amerikanische Schutzmacht aufs schärfste angegriffen habe. Sie könne nicht erwarten, von jemandem beschäftigt zu werden, den sie mit Feuer und Schwert bekämpfe.
Sie wird noch einmal gehört. Beim Wort Frieden, mit dem alles anfing, grinsen die Herren. Das Urteil liegt schon fertig auf dem Richtertisch und wird verlesen: Die Klage ist abgewiesen, Anneliese Groscurth hat die Kosten zu tragen, im Namen des Volkes!
Sie hätte, urteilen die Arbeitsrichter, ein Verhalten an den Tag gelegt, das in evidenter Weise gegen die ihren Arbeitgeber, den Senat von Berlin, berührenden Belange gerichtet sei. Unter Verschleierung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele hätte sie die freiheitliche Grundordnung untergraben und gegen die Treuepflicht verstoßen. Ihr Vertragspartner müsse jederzeit auf ihre äußere und innere Loyalität vertrauen können.
Beim Verlassen des Gerichtssaals denkt sie an Berufung und kriegt noch einen Hieb vom Senatsherrn mit dem Freislerton:
- Auf eine solche Frau spucke ich und sage nur pfui Teufel!
Wer nun meint, der Senat gebe sich mit diesem klaren Sieg zufrieden, der kennt sie nicht, die Feinheiten der fünfziger Jahre und die in Amtsstuben waltende Grausamkeit.
Wieder bringt der Briefträger ein Einschreiben, diesmal vom Senator für Sozialwesen, mit Datum vom 4.8. - acht Wochen zurückgehalten und erst am Tag nach dem Urteil zur Post gebracht:
Ihre Anerkennung als Hinterbliebene eines politisch Verfolgten (PrV) habe ich nach den Bestimmungen des Anerkennungsgesetzes § 7 Ziffer lb zurückgezogen.
Nach dem angegebenen § kann eine Anerkennung als politisch Verfolgter jederzeit zurückgezogen werden, wenn der Anerkannte Handlungen begeht, die eine Anerkennung nicht mehr als tragbar erscheinen lassen.
Gemäß einer Mitteilung des Bezirksamts Charlottenburg von Ber lin haben Sie maßgeblich an einer illegalen kommunistischen Aktion teilgenommen, die gegen die demokratische Ordnung gerichtet ist.
Aus diesem Grunde ist es zu dem obigen Entscheid gekommen.
Wie hätte Michael Kohlhaas reagiert, wenn er, zwei Tage nach dem Urteil des Arbeitsgerichts, das sich auf einen Treueparagraphen der Nazizeit stützt, den Empfang eines solchen Briefes hätte quittieren müssen? Das lässt sich leicht ausmalen, ein Unrecht, ein Schrei nach Gerechtigkeit, neues Unrecht, eine Kette von Rache, Raub, Krieg, die Geschichte ist berühmt, wir bleiben im unbekannten 20. Jahrhundert.
Wie reagiert Anneliese Groscurth?
Urteil und Brief binnen achtundvierzig Stunden, das reicht als Schub für einen Amoklauf oder für einen Herzinfarkt oder für einen Umzug in den Osten der Stadt oder für die Karriere einer Hysterikerin, die überall nur noch Nazis sieht. Sie ist noch stark genug, solchen Abgründen zu widerstehen. Nur das Bild von der Hydra taucht wieder auf, das Hundetier mit viel zu vielen Köpfen, es brennt sich in ihre Tage und Nächte. Die Hydra beißt, die Hydra vernichtet sie, die Hydra vergiftet sie mit ihrem Atem, wenn sie sich nicht wehrt.
Endlich nimmt sie einen Anwalt und legt sofort Beschwerde ein. Sie argumentiert, beweist, erklärt, weil sie immer noch hofft,
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