Mein Jahr als Mörder
wagte ich kein Fachgespräch mehr: Was ging die ändern mein R. an!
In den Mühlen der geheimen Dienste
Frau Groscurth zählt nicht, wie viele Briefträger schon im Wartezimmer standen und eine Unterschrift wollten für einen blauen Brief der Gerichte oder Ämter mit Zustellungsurkunde und Rückschein. Inzwischen wohnt und praktiziert sie am Kaiserdamm, Ecke Lietzensee, wirtschaftlich geht es besser und immer noch schlecht, die Wege nach Osten und zurück sind anstrengend, der kriegslüsterne Frieden in Berlin zerrt an den Nerven. Aber auch im neuen Wartezimmer steht der Briefträger, versucht zwischen den Patienten einen gesunden, überlegenen Eindruck zu machen und will die begehrte Unterschrift.
Sie hat sich abgewöhnt, die juristische Post während der Sprechstunden zu lesen. Ihre Wut auf Richter, Anwälte, Behörden sollen die Kranken nicht spüren, sie nimmt sich vor, gerade dann noch freundlicher und geduldiger zu sein.
Vorladung beim Vernehmungsrichter. Sie soll gegen das Freiheitsschutzgesetz verstoßen haben, die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt. Sie weiß nicht, was gegen sie vorliegt.
Auch nicht, was das Freiheitsschutzgesetz ist. Stechende Schmerzen im Magen wie bei der Verhaftung im September 1943. Sie ruft die Anwältin an. Dies Gesetz bestraft Leute, die andere in Gefahr gebracht haben, politisch verfolgt zu werden. Wenn der Generalstaatsanwalt am Hebel sitzt, wird es keine Bagatelle sein. Sie erinnert sich an nichts, beim besten Willen an nichts.
Fünf schlaf dünne Nächte bis zur richterlichen Vernehmung, wir schreiben April 1956. Dann der Knüppel: Sie soll einen Dr. M., Arzt aus Ostberlin, den sie in Westberlin zufällig getroffen habe, wegen seiner kritischen Sätze über die Verhältnisse im sowjetischen Sektor bei den dortigen Stellen denunziert haben, sodass dieser, vom Staatssicherheitsdienst bedroht, in den Westen habe fliehen müssen.
Ja, da war eine Begegnung mit diesem M., aber wo, wann, wie, was waren die Einzelheiten?
Vor geraumer Zeit, gibt sie auf die Fragen des Richters zu Protokoll, im Herbst 1955, anläßlich einer Führung durch die Spandauer Zitadelle, traf ich Herrn Dr. M., den ich jahrelang nicht gesehen hatte. Ich erkannte ihn nicht. Erst als er mich beim Herausgehen mit meinem Mädchennamen ansprach. Da, wie gesagt, die Führung zu Ende war, war diese Unterhaltung überaus kurz und beschränkte sich zunächst nur auf die gegenseitigen Fragen des Wohnsitzes. Hierbei äußerte Herr Dr. M. seinen Unmut darüber, daß er noch in Lichtenberg tätig sei. Im einzelnen kann ich mich an die Äußerung, die er tat, nicht genau erinnern. Ich erwiderte darauf in jedem Falle, ohne irgendwie schroff zu werden, in einer Form, die m. E. keinen Zweifel über meine politische Einstellung zuließ, zumal ich nicht die geringste Veranlassung sah, diese irgendwie zu verbergen. Ich legte auch dieser Begegnung kaum irgendwelche Bedeutung bei; sie kam mir erst aus folgender Veranlassung wieder in Erinnerung:
Im Rahmen meiner weltanschaulichen Einstellung bin ich um die Verbesserung der Situation der Ärzte in Ostberlin ständig bemüht und habe in diesem Zusammenhang auch mehr als eine Besprechung gehabt. Um gegenständlich zu machen, daß man sich viel mehr um die Ärzte bemühen müsse, mag es sein, daß ich als Illustration den Vorgang mit Dr. M. in einer dieser Besprechungen erwähnt habe, aber keineswegs um etwa gegen Herrn Dr. M. Stellung zu nehmen oder gar ihn zu schädigen, sondern umgekehrt, um die ärztlichen Dienststellen im Osten darauf hinzuweisen, daß sie den Ärzten gegenüber mehr Verständnis aufbringen müßten. Keineswegs erfolgte die Bemerkung, wie ich nochmals ausdrücklich darlegen möchte, in der Absicht, Herrn Dr. M. zu schädigen oder ihn gar, wie mir vorgehalten wurde, der Gefahr auszusetzen, aus politischen Gründen verfolgt zu werden. Ich wiederhole noch einmal, daß das Gegenteil der Fall war, und daß das auch so von meinen Gesprächspartnern verstanden wurde und verstanden werden mußte.
Diese Einlassung hält den Oberstaatsanwalt nicht davon ab, im August Anklage zu erheben. Wegen ihrer starken politischen Aktivität im kommunistischen Sinne gilt sie ohnehin als Kriminelle, die mit dem Groscurth-Ausschuss politischen Rechtsbrechern Rechtsschutz angedeihen lasse. Sie hätte die Äußerung des Dr. M., «solange die rote Bande regiert, ist für die Bevölkerung im Sowjetsektor nichts zu hoffen», in einer Besprechung der Gewerkschaft Gesundheit beim FDGB in
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