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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Ostberlin wörtlich und mit Namen zitiert. Ihr sei bewusst gewesen, dass der 1. Sekretär der Gewerkschaft diese Äußerung an den SSD, den Staatssicherheitsdienst, weitergeben müsse. Sie hätte nicht gezögert, Dr. M. beim Namen zu nennen. Der SSD habe Dr. M. besucht, dann habe er die Warnung vor einer Verhaftung erhalten und in den Westen fliehen müssen.
    Einen Vorwurf macht sie sich seit der Stunde der Vernehmung: den Namen Dr. M. überhaupt ausgesprochen zu haben. Wie konnte das passieren? Zu der Besprechung waren noch ihr Kollege vom Rundfunk, der ebenfalls in Charlottenburg wohnt, und ein Arzt aus Ostberlin geladen. Die Gewerkschaft wollte Rat, wie man die Ärzteflucht nach Westen bremsen könne. Nach einer beschönigenden Funktionärsrede des 1. Sekretärs wagte Frau Groscurth zu sagen, man müsse die Gründe der Unzufriedenheit sehen, da gebe es viel zu tun, und so weiter. Als Beweis für die Unzufriedenheit kam ihr jener Dr. M. in den Sinn.
    Je mehr sie nachdenkt, desto deutlicher meint sie sich zu erinnern, dass sie den Namen zuerst gar nicht, dann auf Nachfrage eines Teilnehmers genannt hat. War das nicht dieser sonst stille 3. Sekretär? Kann das der sein, der jetzt als Zeuge D. mit einer Adresse in Hannover gegen sie aussagen soll? Trotzdem war es dumm, den Namen zu nennen, es wäre nicht nötig gewesen. An Folgen für Dr. M. hat sie in diesem Moment und bis zur Vernehmung nicht gedacht, an den SSD schon gar nicht. Aber jetzt droht Gefahr, echte Gefahr. Wer in die Mühlen der Staatsanwaltschaft und Geheimdienste gerät, mitten in den fünfziger Jahren im Hochspannungsfeld Berlin, hat nichts zu lachen. Es drohen mehrere Monate Gefängnis.
    Sie berät sich mit dem erfahrenen Ostberliner Anwalt Kaul. Der wittert eine Geheimdienstintrige der Amerikaner. Woher sonst weiß der Oberstaatsanwalt, was auf jener Besprechung mit fünf Teilnehmern gesagt wurde? Wer ist jener Zeuge D., der über die Sitzung in der Abteilung Gesundheit bei der Gewerkschaft berichten soll? Arzte werden häufig von westlichen Diensten aus dem Osten abgeworben, meistens mit Warnungen vor angeblichen Verhaftungen, warum nicht auch Dr. M.?
    Diese Deutung schreckt Anneliese noch mehr. Sie möchte nicht in die Intrigen der Geheimdienste hineingezogen werden, das ist gefährlich, das ist die verdammte hohe Politik, damit will sie nichts zu tun haben. Sie fürchtet eine immer größere Strafe für ihre Dummheit. Aber sie hat keine andere Wahl. Und Kaul ist ein Optimist.
    Bei der Verhandlung vor dem Landgericht Moabit im November kann Kaul durchsetzen, dass auch Dr. B., der ehemalige Chef des in den Westen geflohenen Dr. M., als Zeuge gehört wird. Selbst in den unerbittlichen Zeiten des Kalten Krieges funktioniert die Amtshilfe zwischen den Gerichten in beiden Hälften der Stadt. Dr. B., der im Ostsektor wohnt, muss dort von einem Ostberliner Richter vernommen werden, das Protokoll wird in den Westen geschickt, bevor das Landgericht das Verfahren fortsetzen kann. Die westlichen Zeitungen, die schon Blut geleckt hatten bei Anneliese Plumpe alias Dr. Gros-curth, sind enttäuscht: Prozeß gegen kommunistische Ärztin vertagt.
    Sie muss sich gleichzeitig an drei Fronten verteidigen. Für das Recht auf den Pass beim Verwaltungsgericht, das Recht auf Entschädigung beim Landgericht, wie harmlos scheint das gegen die drohende Gefängnisstrafe in Moabit? Wie viele Monate kostet ein Sonntagsausflug in die Zitadelle Spandau? Wie viel das Spielchen der Oberhydra der Geheimdienste?
    Acht Monate muss sie warten bis zum Termin im Juni 1957, bis auch den Richtern der politischen Strafkammer der Fall nicht mehr eindeutig scheint. Zehn Stunden wird verhandelt, dann noch einmal drei Stunden. Der Zeuge D., zur Zeit der fraglichen Besprechung 3. Sekretär der Gewerkschaft Gesundheitswesen in Ostberlin, seit Januar 1956 im Westen, gibt zu, Frau Groscurth den Namen Dr. M. entlockt und die Details über die Besprechung und über Dr. M. an westliche Stellen weitergegeben zu haben. Dr. M. berichtet, von seinen Vorgesetzten in der Klinik in Berlin-Lichtenberg immer wieder beruhigt worden zu sein. Er ist unsicher, ob der Agent, der ihn besuchte, wirklich ein DDR-Agent war. Dr. M. muss, auf Nachfragen Kauls, die Umstände seiner Flucht aufdecken. Er sei von einem Mann, der ihn warnen wolle, in ein Lokal in Friedenau, also in den Westen bestellt worden. Dort habe er den Zeugen D. angetroffen und zwei Männer, die sich als Beamte des CIC auswiesen, der Organisation, die

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