Mein Jahr als Mörder
Kommen Sie, der Kaffee wird kalt.
Er lächelte neben mir auf seinem Wohnzimmersofa, er schob Milch und Zucker heran und bat, auch bei den Biskuitplätzchen zuzulangen. Das Gesicht entspannt, die markanten Züge ohne Falten der Bitterkeit.
- Sie merken schon, sagte er, auf den Roland-Freisler-Pokal bin ich besonders stolz. Der Präsident vergab ihn einmal im Jahr an seinen besten Beisitzer. Es war der letzte Pokal, den er überreichte, ich spüre noch heute seinen herzlichen, festen Händedruck.
Ich sah auf seine rechte Hand, die er mir eben an der Tür entgegengestreckt hatte.
- Es war natürlich auch ein sportlicher Preis, sagte er, ein Wettbewerb, ein ziemlich harter, aber fairer Kampf unter Kollegen: Wer erreicht die meisten Todesurteile, und ich habe damals mit 197 Stück den Vogel abgeschossen, obwohl das für uns alle das ertragreichste Jahr war und ich mit dem 20.-Juli-Komplex nur am Rande beschäftigt gewesen bin.
Ich blickte durch die Terrassentür hinaus in den Garten auf ein Vogelhäuschen, von Meisen umflattert, und hatte für einen Augenblick den Impuls zu fliehen.
- Das andere, nun ja, kleine Verdienste hat jeder, der seine Pflicht gewissenhaft tut.
Der Kaffee war lauwarm, und jetzt erst fiel mir der kostbare Teppich auf, ein Perserteppich wahrscheinlich. Wieder ahnte der aufmerksame Gastgeber meine Gedanken.
- Sie wundern sich, dass ich nichts unter den Teppich kehre? Aber Sie glauben mir natürlich nicht ganz, Sie denken, na, irgendwas hat er doch, was er verschweigt. Nein, ich brauche wirklich nichts unter den Teppich zu schaufeln.
Er zog eine Ecke des Teppichs hoch, wendete sie bis zur Mitte hin, dann die anderen, und nach der vierten lachte er:
- Alles sauber, alles Überzeugung. Alles klar? Auch ein Volljurist darf einen Sinn für Humor haben, oder meinen Sie nicht?
Der letzte Schluck Kaffee war kalt, ich verzichtete auf eine zweite Tasse und ließ ein Biskuitplätzchen auf der Zunge zergehen.
Ganz deutlich hörte ich die Turtles mit Happy together vom Plattenspieler. Wie kamen die Turtles in dieses Haus?
- Ich weiß, was Sie fragen wollen. Sie sind doch Historiker, alle meine Besucher sind Historiker oder Journalisten. Meine Antwort ist ganz einfach. Ich bin immer ein Mann des klaren Worts gewesen. Ich muss mich nicht schämen, dass ich als Richter gedient habe. Wie Sie wissen, habe ich das Recht nicht gebeugt, also kann ich auch offen und frei darüber reden. Mein Prinzip heißt Offenheit, hundert Prozent. Das ist besser als zehn oder fünfzig oder neunzig Prozent Schuldgefühl, kombiniert mit dieser dummen Angst vor der Öffentlichkeit. Ein Cognac gefällig, ein Sherry?
Ich deutete auf den Cognac, schlug die Beine übereinander, und R. setzte das Interview fort.
- Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen gern mein Poesiealbum mit, sagte er, ging an die Biedermeierkommode neben der Terrassentür und holte einen Aktenordner, wog ihn, stemmte ihn in die Luft, legte ihn neben die Plätzchen auf den Tisch.
- Eine Kopie natürlich, Wortlaut meiner schönsten Urteile und die originellsten Begründungen. Bin ja durchaus ein Heißsporn gewesen damals und ein paar Jährchen jünger. Interessiert Sie das?
Ich nickte, und er blieb mit Eifer beim Thema.
- Die Kopierkosten sind natürlich erheblich, die kann ich Ihnen nicht schenken. 49 Mark muss ich dafür leider berechnen.
Ich nickte.
- Wenn Sie wollen, auch mit Widmung.
Ich nickte, holte den Schein aus dem Portemonnaie, er gab eine Mark zurück und schrieb sein schwungvolles R. auf die Titelseite.
- Die Widmung ist natürlich umsonst. Aber Scherz beiseite, Sie haben doch sicher gute Kontakte zur Presse. Wissen Sie, bei den Verhandlungen damals war die Presse leider ausgeschlossen, eigentlich gab es ja gar keine richtige Presse, ich habe da gewissermaßen einen Nachholbedarf. Ich bin sehr daran interessiert, mehr mit den Medien zusammenzuarbeiten, wie gesagt: mein Prinzip ist Offenheit. Vor allem das Fernsehen, für das Fernsehen wäre ich doch ein gefundenes Fressen, meinen Sie nicht? Aber die trauen sich nicht, scheint mir. Vielleicht können Sie hier oder da ein gutes Wort für mich einlegen. Am liebsten wäre mir ein Gespräch mit Günter Gaus im ZDF. Ich nickte und erhob mich.
- Keine Fragen mehr?, fragte er, ein wenig enttäuscht. Oder darf ich Sie noch in meinen Keller einladen? Meinen Hobbykeller?
Einen Moment war ich unentschlossen.
- Scherz beiseite, ich hab keine Leichen im Keller. Außerdem, die Zeiten haben sich geändert.
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