Mein Jahr als Mörder
dribbeln und keinen schweren Körper ins Getümmel werfen. So blieb nur die Verteidigung, und mein einziger Trost am unteren Ende der Rangordnung war, den Posten als rechter Verteidiger zu beanspruchen und einen noch schwächeren Mitspieler, dieses Mal Otto, auf die linke Seite zu schicken.
Wie jeden Sonntag war das wichtigste Ziel: mich nicht zu blamieren. Als schlechter Spieler ist man im Fußball allein, weil man mit jeder Bewegung der Füße vor dem Ball viel mehr falsch als richtig machen kann und jeder kleine Fehler sofort mit Vorteilen für den Gegner und mit Flüchen der Mitspieler bestraft wird. Wenn es gut lief, konnte ich als Defensivspieler glänzen, mutig und mit dem richtigen Instinkt die Läufe der gegnerischen Stürmer stören, ihnen den Weg zum Tor verbauen oder sie vom Ball trennen und die Pässe zu den Mitspielern nach vorn schlagen. Die Blicke gingen ins Mittelfeld und nach links, nach hinten zum Torwart und auf die Beine und Körperhaltungen der heranstürmenden Gegner, um möglichst früh zu ahnen, ob sie rechts oder links an mir vorbei oder vorher den Ball abgeben wollten. Wilde Sonntagskicker wie wir trugen keine Trikots, jeder hatte die Farben an, die ihm passten, das erschwerte die Abwehr, ich musste hellwach sein, wenn sich das Spiel in unsere Hälfte verlagerte.
Es spielt keine Rolle, wie viele Tore wir an diesem Nachmittag kassierten, gewiss schoss der wuchtige, schnelle Harun, mit dem Otto sich mehr zu messen hatte als ich, wieder seine drei oder vier Tore. Aber ich weiß noch, und deshalb erzähle ich das, dass ich während des Spiels den Richter R. nicht vergessen konnte. Wenn ich nach links schaute oder wenn ich den Ball in Ottos Richtung spielte, wurde ich, ob ich wollte oder nicht, an meine brennende Frage erinnert.
Es gab immer mal wieder ruhigere Minuten, in denen unsere Stürmer das andere Tor belagerten und wir beiden Verteidiger vorrückten. Doch wir standen zu weit auseinander, um ganze Sätze wechseln zu können, und es wäre selbst unter uns Dilettanten sträflich gewesen, wenn wir uns zu einem Schwatz in der Mitte getroffen hätten, statt den leeren Raum zu decken. In dem Gekicke und Gebolze und Geschrei erschien mir mein Vorsatz naiv. Schon im Voraus spürte ich die Peinlichkeit des Versuchs, in der Pause oder nach dem Sieg oder der Niederlage, jedenfalls im falschesten Moment, verschwitzt, blessiert und erschöpft wie alle, die Rede auf den Richter R. zu bringen.
Nach einem ausnahmsweise gut gelungenen Steilpass, der mir eine kurzes «Schön!» von Arno eintrug, nach dem Lob, das mich von meiner Fixierung ablenkte, spielte ich lockerer auf. Dann das übliche Foul des flinken, dicken Neuss, der diesmal zum Glück nicht gegen mich stürmte. Er war der Angreifer, den ich am meisten fürchtete, weil er schnell verärgert war und dann seine Gegner rücksichtslos umrannte, festhielt oder in die Hacken trat. Jetzt war Christoph das Opfer, er lag am Boden drüben im anderen Strafraum, eins der üblen Fouls, die jeder Schiedsrichter gepfiffen hätte. Aber wir hatten keinen Schiedsrichter, und bei Fouls gab es, wenn die Mehrheit für einen Strafstoß nicht eindeutig war, heftige Wortgefechte. Wer am lautesten schrie, am kräftigsten gestikulierte, am entschiedensten sein eingebildetes Recht vertrat, setzte sich durch, auch darin war der zänkische und witzige Neuss ein Meister. Laut über den Platz seine Sprüche: «Ich hab das Recht nicht gebeugt, nur das Knie! Freispruch für R.! Freispruch für mich!» Wir lachten. Als der Strafstoß endlich ausgeführt war, blieb Neuss trotzdem Sieger: Er hatte alle Gefühle auf sich gezogen, Ablehnung seiner Härte, Bewunderung seiner Show.
In der Pause wurde über die Fouls gestritten, Christoph hatte noch Schmerzen. Ich hielt mich in Ottos Nähe, als wartete ich darauf, von ihm angesprochen zu werden, belästigte ihn aber nicht mit Fragen, weil ich hoffte, ihn hinterher beim Bier anzusprechen.
In der zweiten Halbzeit misslang mir vieles, es war wie immer, mir fehlten Technik, Tempo, Härte - aber ich schaffte es, den Richter R. zu vergessen, solange der Ball rollte. Als wir das Spiel verloren hatten, hielten Otto, Jochen und ich uns nicht lange mit Kommentaren oder Beschwerden auf und gingen zum Parkplatz. Die beiden redeten miteinander, ich sah keine Chance, mit meinen Fragen einzuhaken. Otto war der Erste, der die Schuhe gewechselt hatte und, aus dem Auto winkend, in Richtung Stadtautobahn verschwand. Auch an den folgenden Sonntagen
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