Mein Jahr als Mörder
besichtigt, begann er seine Runde um halb sieben, nur vom Dackel begleitet. Auch bei der Kontrolle am nächsten Tag lief alles wie erwartet, R. blieb bei seinem Plan: acht, halb zwei, halb sieben, und bog jedes Mal nach links ab. Ich passte gut auf, nicht von ihm entdeckt zu werden.
Ob ich kein Mitleid gespürt habe mit dem Mann, frag ich mich heute. So weit ging das Gefühl nicht, denn sein Gesicht wirkte wie ein Geständnis, das Gesicht widersprach genau dem, was er vor den Gerichten zu seiner Entlastung vorgetragen hatte, das Gesicht bewies, dass er sich als Rechtsbrecher fühlte. Ja, ein alter Mann, wozu der Aufwand, wozu ihn noch mit einem Mord aufwerten? Der Gedanke stellte sich öfter ein, gerade in den Warteminuten beim Observieren. Doch ich strengte mich an, in R. nicht den ängstlichen Rentner zu sehen, sondern den Funktionsträger, den Naziverbrecher, den zweihundertfünfzigfachen Mordkomplizen. Den Groscurth-Henker, der seit dem Krieg 270 000 DM Ruhestandsbezüge erhalten hatte, bis er im schönen Schleswig wieder ins Richteramt gehoben wurde, wo besonders viele ehemalige Nazis dem Rechtsstaat dienten. Wo ein Ankläger des Volksgerichtshofs, der das Gnadengesuch für Groscurth abgelehnt hatte, zum Ersten Staatsanwalt beim Oberlandesgericht aufsteigen durfte. Wo die Schleswiger Juristenfreunde 200 000 DM Kaution aufbrachten, damit R. während seines Verfahrens nicht in einer Zelle einsitzen musste. Das Sündenregister war so gigantisch, dass das Menschlein dahinter dünn, verhärmt, würdelos schien, ein Suppenkasper des Rechts. Neben ihm, auch das hätte ich dem psychologischen Gutachter zugegeben, wollte ich mich wie ein kleiner Widerstandskämpfer fühlen, ein Partisan, der an die Gesichter und den gesundheitlichen Zustand seiner Feinde keine Gedanken zu verschwenden hat. Ein Schreckschuss in der Stadt der Moorleichen!
Gewiss, ich hätte R. lieber vor dem Kammergericht in Berlin niedergestreckt oder in irgendeinem dekorativen Justizpalast. In der Stille eines Villenviertels, morgens gegen acht oder abends gegen halb sieben, das wirkte ziemlich einfallslos, aber ich konnte mir den Tatort ja nicht aussuchen, schon gar nicht eine politisch-symbolisch passende Kulisse, wie Filmleute sie bevorzugt hätten. Der Plan war einfach: mit der Waffe im Auto heranfahren, im richtigen Moment aussteigen, drei Schüsse, alles eine Frage der Pünktlichkeit.
Das klingt sehr abgeklärt, aber mit dieser suggestiven Sachlichkeit hielt ich die Skrupel in Schach. Der Mord, zu dem ich mich vom RIAS-Sprecher und den Fehlurteilen der Justiz befohlen glaubte, der Mord, den ich schon verworfen und nun wieder in Angriff genommen hatte, sollte in jeder Einzelheit kühl und rational vorbereitet und ausgeführt werden.
Schon auf der Rückfahrt, im gleichmäßigen Lärm des luftgekühlten Fiatmotors auf der Autobahn, dachte ich nur an die Vorteile. Während die anderen Wagen mich überholten, berauschte ich mich an Beifall und Belohnungen. Ich musste nur die harte Strecke von fünf, sechs Jahren Gefängnis überstehen, vielleicht eine gute Gelegenheit, die Teuflische Komödie zu schreiben. Und überhaupt, dachte ich, vor Marienborn im Grenzstau stehend, du bist der Bundeswehr entwischt, hast dir die anderthalb Jahre bei den Soldaten erspart, das holst du jetzt nach, deine Tat ist ein Dienst für die Demokratie, fünf, sechs Jahre.
Kriegswichtig
Mir geht es gut, schreibt der Arzt im Februar aus der Todeszelle nach Wehrda an die Schwiegermutter Else Plumpe, die mit seiner Schwester Luise die Söhne versorgt, unsere Lebensführung hier ist ja außerordentlich regelmäßig, was allein schon zum Wohlbefinden beitragen sollte. Ich schlafe gut, fast 12 Std. tagt, Alarme stören uns nicht. Tagsüber schreibe ich wissenschaftliche Arbeiten und lese, teils Medizin, teils Bücher allgem. Inhalts, die ich mir wöchentlich aus der Bibliothek bestellen kann. So wird der Verlust der Freiheit auch erträglich; daß die Ungewißheit manchmal drückend ist, wirst Du wohl verstehen.
Abwechslung gibt es im März und April, da wird er gefesselt nach Berlin gekarrt und als Zeuge vor den Volksgerichtshof geschoben. Die ändern drei Todeskandidaten werden in ändern Autos transportiert, getrennt, keine Gelegenheit für einen Blick, ein Winken, ein Wort. Vor den Hakenkreuzfahnen sieht Georg den nervösen Hatschek wieder und versucht ihn zu entlasten. Der hat alles gestanden, das merkt er sofort, ein Nervenbündel. Es war ein Fehler, nach dem ersten
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