Mein Jahr als Mörder
nirgends eine Verteidigung der Politik der DDR. Ihre Stellung «zwischen den Fronten» mag ungewöhnlich sein. Jedenfalls ist ihre Haltung klar: gegen Faschismus und Krieg, in Erfüllung des Vermächtnisses des Opferganges ihres Mannes - nicht aber gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.
Während das Landgericht diese Argumente prüft oder zu prüfen vorgibt, hat Anneliese keine Bange: So gut und klar, so sachlich, ausführlich und leidenschaftlich war noch keiner der vielen Schriftsätze begründet, nun kann sie niemand mehr als böse Kommunistin an den Pranger stellen.
Da schlägt die Hydra des Entschädigungsamts mit einer neuen, alten Giftladung zu: Nazi-Frau! NS-Frauenschaft! Lügnerin!
Sie wird krank, sie kann nicht mehr, drei Prozesse hat sie hinter sich, zwei sind ihr aufgezwungen, werden verschleppt und aufgebläht, sie hat alles hundertmal erklärt und soll es noch hundertmal erklären, aber vor dem Landgericht als Nazi verleumdet werden, das reißt ihr die Knie weg, lässt sie taumeln und bringt das Herz aus dem Takt. Den ganzen Herbst 1957, den halben Winter hat sie gegen die Grippeepidemie gekämpft, Tag und Nacht, in West und Ost, erst die Patienten, dann die Prozesse, eine Parole, die ihre tüchtige Anwältin oft aufgeregt hat. Nun wirft die schwerste Grippe auch sie ins Bett, den ganzen Januar, die Praxis liegt still, ein Vertreter muss kommen. Sie kämpft um ihr Leben, fiebert sich durch das Gestrüpp der tausend Gemeinheiten der Urteile und Schriftsätze, durch den Krieg der Unterstellungen, fiebert sich in die Nächte des Telefonterrors zurück, in die Tage der Beschimpfung ihrer Mitarbeiter und Patienten. Sie fiebert weiter in die Vergangenheit hinab, an die sie nie mehr denken wollte, die Einzelabteile der Wartebänke vor den Gestapo-Verhören im Keller der Prinz-Albrecht-Straße, das Schweigen bei den Verhören, die Nächte bei Bombenalarm im obersten Stock des Polizeigefängnisses, als alle Gefangenen in den Schutzkeller durften, nur sie nicht, sie fiebert vor dem Volksgerichtshof, Freislers Stimme, den Flugblättern. Nein, nicht noch einmal den Stichschmerz der Flugblätter. Aber Robert ist der Einzige, der ihr heute helfen kann, Robert muss sie retten.
Endlich ist der Freund zu erreichen. Er gibt eine eidesstattliche Erklärung ab, warum die Mitgliedschaft im NS-Frauen-bund zur Tarnung nötig war. Er stellt die Tätigkeit der Gruppe dar, spricht von den Juden, die in Groscurths Wohnung versteckt waren, Robert rühmt, ein wenig übertrieben, Annelieses vielfältige Hilfe beim Verstecken und Versorgen, beim Geldbeschaffen, beim Passfälschen, beim Ausstellen falscher Atteste, beim Weitergeben von Informationen, Robert schildert die Lebensgefahren, in die auch sie sich für die Ziele der Gruppe begeben hat, Robert begründet ausführlich, warum die Gruppe sie in die NS-Frauenschaft drängen musste. Er ist bereit, als Zeuge aufzutreten.
Sie denkt, das ist die Rettung, aber die Anwältin fordert mehr: Haben Juden überlebt? Namen? Wer hat die Pässe gefälscht? Wer Lebensmittel gegeben? Tot sind die Zeugen, niemand hat die Tätigkeit und das Netz der Gruppe erforscht, nur eine Hand voll Menschen kennt die Europäische Union. Widerwillig ergänzt sie Roberts Darstellung mit Details und beschreibt die dramatische Lage, in der Groscurth sich nach der Aufforderung von Heß, in die Partei einzutreten, befunden hat. Jede erinnerte Einzelheit tut weh.
Und was antwortet der Hausjurist vom Entschädigungsamt in seinem Schriftsatz? Er spricht von angeblichen Widerstands- Handlungen und behauptet: Die kurze Haft habe sich nicht gegen sie als Gegner des Nationalsozialismus gerichtet. Die kurze Haft sei der Beweis, dass sie nicht verfolgt worden sei. Nach der Logik: Weil ihr nicht der Kopf abgehackt wurde, muss sie eine Nazi gewesen sein!
Eine solche Logik kann sich ein Anwalt der Gegenseite leisten, hofft sie, doch kein Richter am Landgericht. Die Richter endlich, was tun sie, was denken sie? Sie lehnen sich zurück, monatelang, studieren die Urteile der Arbeitsgerichte, des Verwaltungsgerichts, fragen beim Oberverwaltungsgericht nach der hingeschleppten Pass-Sache, Monate, in denen sie weiter auf die dringend benötigte Entschädigung wartet.
Endlich soll am 6. 10. 1959 entschieden werden. Schon nach drei Minuten, weil die Sache jetzt endlich mal ein Ende nehmen muß, will sich das Gericht zur Beratung zurückziehen. Die Anwältin protestiert, bei keinem der Termine habe man über die
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