Mein Jahr als Mörder
sie hat Glück gehabt. Weil sie während des Strafprozesses verdächtig war, Angeklagte, Agentin fast, hat das Landgericht die Klage für die Entschädigung nicht gerade mit Eile betrieben. Und beim Oberverwaltungsgericht liegt die Sache mit dem Reisepass. Obwohl die Ärztin dem OVG in schlichter Sprache erklärt hat, was Kriegshetzer, was Faschisten sind, lassen sich die Herren ein Jahr Zeit, bevor sie, da der Sachverhalt noch weiterer Aufklärung bedarf eine Liste von zehn Fragen zum Groscurth-Aus-schuss beantwortet haben wollen, binnen vier Wochen. Zum Beispiel wird gefordert, die vollständigen Niederschriften sämtlicher Sitzungen des Präsidiums des Groscurth-Ausschusses einzureichen und die Unterlagen des Ausschusses über sämtliche Fälle vorzulegen, in denen er Einzelpersonen seiner Zielsetzung entsprechend Hilfe geleistet hat.
Schikane, verjährter Kram, von dem Frau Groscurth nicht die geringste Ahnung hat. Da soll ausgehorcht, ausgeforscht, eingeschüchtert werden, nichts weiter.
Aber wie reagieren, bis zur Erschöpfung strapaziert von den anderen Prozessen? Antworten, dass sie die meisten Fragen zum Ausschuss gar nicht beantworten kann? Sich damit die nächste Giftladung einhandeln? Oder die Klage zurücknehmen, weil die anderen Verfahren wichtiger sind und an die Existenz gehen? Also aufgeben, weil sie völlig ermattet ist von den immer gleichen Argumenten? Weil auch hier wieder Hunderte von Mark an Kosten zu tragen sein werden? Also auf einen Pass verzichten? Auf Reisen in den Westen?
Nein, für drei Prozesse reicht die Kraft nicht. Die Anwältin weiß einen Ausweg. Sie nimmt die Klage nicht zurück, den Triumph soll der Polizeipräsident nicht haben. Im Juni 1958, zweieinhalb Jahre nach der verweigerten Reise in die Schweiz, schreibt sie an das Oberverwaltungsgericht: Erst sollen die anderen Verfahren entschieden werden, in denen es grundsätzlich um die gleichen Streitpunkte geht, vorläufig soll das Verfahren ruhen.
Ruhe gibt es nicht. Im Dezember 1957 wogt der Streit um den Schaden an Leben und den Schaden an Freiheit schon ein Jahr, die Argumente erweitern und wiederholen sich.
Die Anwältin sieht nur eine Chance: Weg von den Kampfbegriffen des Kalten Krieges. Da kein Kopf der Hydra von dem Bild der besonders heimtückisch getarnten Kommunistin loskommt, erinnert die Anwältin daran, dass Frau Groscurth von den Erfahrungen in der Europäischen Union, vom Schicksal Georgs und ihres Vaters geprägt ist und nicht von einer Ideologie: Die Klägerin ist keine Kampfnatur; sie ist im Grunde ein unpolitischer Mensch, jedenfalls in dem Sinne, daß ihr der politische Kampf mit seinen propagandistischen, häufig notwendig übertriebenen Ausdrucksmitteln nicht liegt. Sie ist Arzt aus Berufung und Neigung und geht völlig in diesem Beruf auf. Nach ihrer Entlassung aus den Diensten des Bezirksamtes Charlottenburg stand sie vor der Notwendigkeit, sich eine Praxis neu zu schaffen und davon ihre Kinder und sich zu ernähren. Jede öffentliche Unterstützung wurde ihr damals verweigert, und zwar auch für die Kinder. In dieser Situation fand sie auch nicht die Zeit, sich aktiv aus eigener Initiative und eigener Inspiration in politische Kämpfe einzuschalten. Andererseits aber hatte sie ein wachsames Ohr für die etwa 1951 deutlich hörbaren Signale, die stark auf eine Remilitarisierung hindeuteten.
Die Anwältin weist auf das umstrittene Verbot der Volksbefragung hin, auf die unberechtigte Entlassung, auf die Nervosität in beiden Teilen Berlins in den vergangenen Jahren und auf die Einseitigkeit der Presse im Osten wie im Westen, die jeweils Partei für die eigene Seite nahm, die eigenen Skandale aber vertuschte. Welcher Art auch immer die Voraussetzungen zu den Vorfällen vom 15. August 1951 waren, eines steht fest: Niemand kann das gut heißen, was damals geschehen ist. Die Vorfälle mussten untersucht werden, zumal die Westberliner Presse teils die Vorgänge tot schwieg, teils duldete, indem sie sie zumindest nicht anprangerte. Anneliese Groscurth sei in dieser schweren Situation dem besten Freund ihres Mannes, Robert Havemann, gefolgt, weil der für sie eine menschliche Autorität darstelle.
Sie legen die Rede vor, die Frau Groscurth in Auschwitz vor Müttern, Witwen und Waisen von Ermordeten gehalten hat, dazu eine Ansprache beim Treffen der Nazi-Verfolgten 1952 und ihre Protest-Rede gegen das Arbeitsgerichtsurteil von 1951 - nirgends ein Angriff gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung,
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