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Mein Jakobsweg

Mein Jakobsweg

Titel: Mein Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Sauer
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kriegen. Und sollten wir aufgegriffen werden, wisst ihr ja, was ihr zu tun habt.
    Ja, Mutti, keine Angst zeigen und nicht weinen. Wir nahmen uns zusammen und wischten uns die Tränen weg.
    Es dauerte nicht lange, und ein russischer Soldat trat aus dem Unterholz. Stoj, sagte auch er, aber wir waren sowieso schon stehen geblieben. Mit dem Gewehr im Rücken mussten wir umkehren. Er führte uns bis zu einer Lichtung, wo schon eine ganze Reihe Menschen stand; in Gruppen, jeweils von einem Soldaten bewacht. Auch unser Soldat postierte sich vor uns, mit dem Gewehr im Anschlag. Immer mehr Grenzgänger wurden gebracht. Wir durften uns nicht bewegen und nicht miteinander sprechen.
    Endlich begannen die Verhöre; der Befehlshaber ging von Gruppe zu Gruppe. Jeweils am Ende des Verhörs wurden die Grenzgänger von der Lichtung gebracht.
    Nun war er bei uns und sprach mit Mutti. In gewisser Weise war er sogar freundlich, zumindest nicht herrisch oder befehlshaberisch. Was er uns Mädchen im Einzelnen fragte, habe ich nicht mehr in Erinnerung. Aber ich weiß noch, dass wir ihm relativ unbefangen antworten konnten. Bewacht von unserem Soldaten, wieder mit dem Gewehr im Rücken, verließen auch wir die Lichtung.
    Auf dem breiten Waldweg befahl er uns, nach links zu gehen - in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Gen Westen also! Bald schon ging er neben uns, schulterte sein Gewehr und sprach mit Mutti. Er wollte wissen, wo wir leben, ob sie einen Mann habe, ob wir in eine richtige Schule gingen.
    Mutti anwortete, so gut sie konnte, wie das so ist, wenn man mit jemandem spricht, dessen Sprache man nicht kennt. Sie erzählte von unserer Großmutter, die uns so sehr half in dieser schweren Zeit.
    Gute Frau, sagte er. Doch zu unserem Schrecken zog er uns plötzlich in ein Gebüsch. Wir mussten uns setzen, er saß zwischen Mutti und Lisa. Ich litt furchtbare Angst. Das Gewehr lag hinter ihm. Nun wollte er Muttis Rucksack sehen, der bis oben mit Lebensmitteln vollgestopft war. Er probierte von jedem, klappte sein Taschenmesser auf und schnitt sich eine halbe Dauerwurst ab und steckte sie zu unserer Verwunderung einfach lose in die Jackentasche. Mutti bot ihm die ganze an, aber er sagte: Nein, für Kinder. Dann schnitt er von dem Schinken ab. Gut, gut, lobte er kauend, und Mutti legte noch Brot dazu. Auch für uns schnitt er von dem Schinken ab und reichte ihn uns, noch auf dem Messer liegend. Ich wagte kaum den Schinken zu nehmen, weil ja noch die Klinge darunter war.
    Nun war er fertig mit Essen, lobte die gute Oma, die gute Mutter und die lieben Kinder. Er hatte auch eine Tochter und eine liebe Frau zu Hause und zeigte uns Fotos. Schon zwei Weihnachten hatte er sie nicht mehr gesehen. Das Mädchen, ich erinnere mich noch genau, war in meinem Alter und trug eine riesig große weiße Schleife über ihrem dunklen Haar.
    Erst jetzt nahm er das Akkordeon aus Lisas Rucksack und gab es ihr. Sie sollte spielen. Doch sie war so nervös, dass sie nur klimpern konnte. Dann stimmte Mutti ein Lied an, ich glaube »Am Brunnen vor dem Tore«, und Lisa konnte nun einigermaßen begleiten.
    Sie müsse noch viel studieren, sagte der russische Soldat und nahm ihr das Akkordeon ab. Nun glitten seine Finger über die Tasten. Er spielte russische Weisen voller Melancholie und sang dazu. Seine Stimme klang wundervoll. Niemals zuvor hatte ich solch eine schöne Musik gehört, außer im Radio. Er war ein echter Künstler. Seine Musik war wie ein Wunder. Und das hier, mitten in diesem kalten dunklen Wald, inmitten des Niemandslandes. Ein letztes Mal noch strich er sanft über die Tastatur und gab das Instrument dann sorgsam zurück in Lisas Rucksack.
    Er half uns auf, wir sollten uns jetzt beeilen. Mit dem Gewehr über der Schulter ging er vor uns. Schon bald blieb er stehen, und als wir hinzukamen, trauten wir unseren Augen nicht.
    Vor uns lag eine breite, ganz frisch gepflügte Schneise. Vor zwei Wochen hatten hier noch Bäume gestanden. Mutti sagte: Jetzt wird es ernst, sie machen ganz Ostdeutschland dicht.
    Er wollte »kontrollieren« und ging auf dieser noch feucht glänzenden Erdscholle auf und ab. Für einige Zeit war er zwischen den Bäumen auf der anderen Seite verschwunden. Wir sollten geradeaus laufen, immer geradeaus, bis wir auf einen Waldweg kämen und dort nach links. Auf gar keinen Fall nach rechts, das war ihm sehr wichtig.
    Dann rannten wir, so schnell wir konnten. Über diesen Streifen Erde, der uns keinen Schutz bieten konnte und der

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