Mein Jakobsweg
rechten Hand in die Richtung, in die wir gehen müssen, um nach Santiago zu kommen. Er sieht etwas grimmig aus, finde ich, zumindest sehr energisch, als wolle er sagen: Sprich mich nicht an und geh gleich weiter!
Vor etwa 50 Jahren musste der alte Ort Portomarín der Planung dieses Stausees weichen und ist etwas höher am Berg wieder aufgebaut worden, manche Gebäude sogar Stein für Stein. Als hätte sie niemals woanders gestanden, bestimmt die romanische Wehrkirche aus dem zwölften Jahrhundert das Stadtbild. Ich finde diesen Ort ganz bezaubernd. Sogar mein Pilgerstempel aus der Nikolauskirche hebt sich in seiner Besonderheit von allen anderen Stempeln ab, die ich bisher bekommen habe.
Inzwischen ist es zwölf Uhr. Vor der Herberge reiht sich nun bereits Rucksack an Rucksack. Wir werden auf zwei große Säle mit insgesamt bestimmt über hundert Betten verteilt. Für Frauen und Männer sind jeweils ein kleiner Waschraum mit nur zwei Duschen, zwei Waschbecken und auch nur zwei Toiletten vorhanden. Kein Aufenthaltsraum, keine Küche und keine Möglichkeit zum Waschen oder Trocknen. Sollte es solche Räume einmal gegeben haben, so sind die Türen jetzt verriegelt, wie auch das Tor zu dem großen Innenhof oder Garten, der uns etwas mehr Platz bieten könnte. Diese Herberge, ein ehemaliges Kloster, ist ein Auslaufmodell. Die neue steht drüben, aber wir dürfen noch nicht rein.
Ist das hier ein Stress, höre ich jemanden sagen, im vorigen Jahr waren nur acht Pilger hier. In diesem Jahr aber feiern wir das Heilige Jahr oder Jubileo, also Jubeljahr; das geschieht, wenn der 25. Juli, der Jakobstag, auf einen Sonntag fällt. In einem solchen Jahr kann der Pilger einen vollständigen Ablass seiner Sünden erwarten. Dafür muss er nur 100 Kilometer gelaufen sein, und die beginnen in etwa hier.
Mir wäre es lieber gewesen, in einem ruhigeren Jahr zu pilgern. Ich war sehr erschrocken, als ich mitten in meinen Vorbereitungen feststellen musste, dass 2004 ein Heiliges Jahr ist. Aber vielleicht hätte ich im nächsten Jahr nicht mehr gehen können. Meine Chance wäre vertan gewesen. Und das wollte ich auf keinen Fall riskieren. Die Zeit meiner Krankheit hat mich gelehrt, dass man die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht aufschieben darf.
Den Nachmittag verbringe ich in einer Parkanlage über dem Stausee. Die Aussicht ist ungemein heiter und friedlich. Still liegt der kilometerlange See vor mir, sein Wasser glitzert in der Sonne. Träumend liege ich im Gras, bin völlig von meinem Glück erfüllt und will gar nicht fort von hier. Sehr viele Kinder sind da, die mit großem Eifer sportliche Wettkämpfe austragen, während die Kleinsten an den Geräten auf dem Spielplatz turnen dürfen.
Gegen Abend frischt der Wind auf und schiebt dunkle Wolken über den See. Elisabeth und Tom sind inzwischen angekommen. Bei ihnen ist die Engländerin, deren Pass ich gefunden hatte. Elisabeths Knie ist jetzt bandagiert und nicht mehr ganz so geschwollen. Morgen will sie hier noch mal zum Arzt gehen.
Das kleine Mäuerchen vor dem Eingang begrenzt die bescheidene Außenanlage der Herberge, wo wir uns jetzt zwischen tropfender Wäsche hindurchzwängen müssen. Alles, was sich in diesem Bereich zum Halten von Leinen anbietet, wie Nägel, Ecken, Fensterscharniere und sogar Türgriffe, wird zum Spannen benutzt. Vielfältigste Möglichkeiten bietet die Telefonzelle auf dem Bürgersteig, die vollkommen zugehängt wird.
Mañana, sage ich zu dem Spanier, der seine nassen Sachen noch dazwischenzwängen will, und zeige rüber zu dem neuen Haus.
Er lacht und nickt bestätigend, sí, sí, mañana, und streckt seinen Arm in die Richtung, in die wir morgen gehen.
Sí, sí, bestätige ich, morgen müssen wir weiter.
Von Portomarín nach Palas de Rei
Hebt man den Blick, so sieht man keine Grenzen.
Aus Japan
W ieder mal bin ich die Erste. Vor den Fenstern ist schwärzeste Nacht, der Vorraum nur schwach beleuchtet.
Schmerzhaft drückt der Stiefel gegen die Achillessehne. Der Fuß aber ist nicht mehr gar so geschwollen. Es wird schon gut gehen!
Langsam taste ich mich die steile Straße hinab und habe meine liebe Not, bei diesem Nebel die Fußgängerbrücke über den Stausee zu finden. Gleich geht es rechts wieder einen Waldweg hinauf, kaum sehe ich neben mir die Bäume. Wie steil und lang dieser Weg sein wird, werde ich später noch in den Beinen spüren. Bergauf und bergab gehend, habe ich über 300 Höhenmeter zu überwinden, befinde
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