Mein Jakobsweg
mich dennoch stetig auf Höhe einer Bergkuppe.
Gegen elf Uhr versperrt mir der Nebel noch immer die Sicht in die Täler. Nur selten stehen ein paar Häuser am Wegrand, aber endlich komme ich zu einem Rastplatz: ein Tisch mit Bänken drumherum. Es ist sonst niemand da, also ziehe ich den Stiefel aus und lege das Bein hoch, nehme frisches Wasser und esse etwas Brot und Käse.
Gemessen an der übervollen Herberge, sind hier nur wenige Pilger unterwegs. Wären nicht die gelben Pfeile, müsste ich annehmen, dass ich einen falschen Weg gewählt habe. Bis sich dann doch fünf junge Männer zu mir setzen. Dass sie aus dem Osten sind, kann ich mir denken, aber ich weiß nicht genau, aus welchem Land.
Aus Russia, aus Moskau, erklärt einer der jungen Männer. Vor dem Mauerfall lebte er mit seinen Eltern in der DDR, deshalb ist er mit unserer Sprache recht gut vertraut. Ob es ihm dort wohl besser gefallen hat als jetzt in Russland? Ich will nicht allzu indiskret sein und vermeide diese Frage, schnüre meinen Schuh und gehe weiter.
Die Begegnung mit den freundlichen jungen Russen hat meine Erinnerung auf Trab gebracht. Während ich weitergehe, fallen mir mit jedem Schritt mehr Details aus meiner Kindheit ein, in der »die Russen« jahrelang eine feste Größe bildeten.
Die Grenzgänge meiner Kindheit
In der russisch besetzten Zone, nahe Magdeburg, lebte meine Großmutter. Wir dagegen im Zonenrandgebiet auf westdeutscher Seite. Uns trennten keine 100 Kilometer. Dazwischen aber lag die Grenze.
Während wir, meine Mutter, meine Schwester und ich, hungerten, hatte Omi für uns alle genug zu essen. Sie war Selbstversorgerin, fütterte Schweine, Hühner und noch so manches Federvieh und bewirtschaftete einen großen Garten. Da lag es nahe, zu ihr in den Osten zu gehen, sooft wir nur konnten, also praktisch in allen Schulferien. Als ich das erste Mal buchstäblich über die Grenze geschmuggelt wurde, damals noch im Harz, war ich fünf und meine Schwester Lisa sieben. Wir mussten mit einem fremden Mann mitgehen, auf einem Baumstamm einen reißenden Gebirgsfluss überqueren und zu guter Letzt einen langen Weg zwischen hohen Tannen ganz allein gehen. Meine Mutter war nicht mitgekommen. Sie musste das Problem des Wohnens lösen und auch wieder Arbeit finden. Zudem kannte ich meine Großmutter gar nicht. Aber Lisa war schon bei ihr gewesen. Das war während meiner langen Krankheit, als Mutti mich Tag und Nacht pflegen musste und sich kaum mehr um Lisa kümmern konnte.
Es war unser Glück, dass wir gerade in diesem Herbst bei unserer Großmutter waren. Ein Schutzengel muss seine Hand über uns gehalten haben. Denn auf diesen Herbst sollte der kälteste Winter seit Menschengedenken folgen. In diesem Jahr fror sogar der Rhein zu. Es war so bitterkalt, dass uns die Hosen an den Beinen gefroren, sobald wir nur eine halbe Stunde draußen waren. Tatsächlich konnten wir die Hose, wenn wir sie ausgezogen hatten, richtig auf die Beine stellen.
Aber wir litten keinen Hunger wie so viele andere und hatten genug Brennholz. Den Ofen in der Küche ließ Omi gar nicht mehr ausgehen. Erst im Frühjahr, als das Schlimmste vorbei war, sind wir Mädchen ganz allein mit dem Zug wieder zu unserer Mutter nach Westdeutschland gefahren.
Omi war furchtbar nervös, als sie uns zum Bahnhof brachte, und fuhr auch noch bis Magdeburg mit uns. Mutti war inzwischen umgezogen, und Lisa sollte andauernd diesen Ort nennen, bei dem wir aussteigen mussten.
Um Gottes willen, steigt nicht vorher aus, beschwor Omi uns. Und wenn euch irgendjemand fragt, Lisa, dann antwortest nur du. Elke, du hältst deinen Mund, hast du verstanden. Mit deinem losen Mundwerk bringst du uns sowieso noch mal in Teufels Küche.
Später, als die politische Situation in der DDR immer kritischer wurde, sollte sie zu meiner Mutter dasselbe sagen: Tochter, sprich du mit ihr, das Kind bringt uns noch in Teufels Küche.
Ich protestierte dann immer: Ist doch wahr, was ich sage!
War es auch. Nur aussprechen durfte man es nicht, aber das verstand ich als Kind noch nicht.
In den folgenden Jahren sind wir nur schwarz über die Grenze gegangen. Ob wir nun die vier Kilometer erst zu unserem Bahnhof gingen oder gleich über Oebisfelde, machte kaum einen Unterschied. Mitten auf der Allerbrücke war die Grenze. Dort stand ein Posten. Mit einem höflichen »Guten Tag« und einem weiteren Schritt waren wir dann drüben. Die eigentliche Kontrolle fand nach dem Grenzübergang auf den
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