Mein Jakobsweg
später nach seiner waffenstarrenden Sicherung der Todesstreifen genannt werden sollte. Im Weglaufen sah ich, wie Mutti dem Russen die Tüte mit den Trockenpflaumen in die Hand drückte.
Lisa war uns voraus und erreichte als Erste den Weg. Bist du still, rief Mutti, als Lisa sich zu lautstark freute.
Ich hatte schlimmes Seitenstechen. Aber Mutti sagte: Wir müssen weiter. Immerhin gingen wir jetzt langsamer. Endlich waren wir durch den Wald und sahen in der Dämmerung über die Felder hinweg einen Kirchturm. Die Teerstraße, auf der wir jetzt gingen, mündete in eine Kreuzung. Dort standen Verkehrsschilder. Die Hoffnung trieb uns voran, bis endlich die Schrift lesbar war.
Helmstedt, stand auf einem Schild. Helmstedt, fünf Kilometer.
Ohne ihn wären wir jetzt nicht hier, brachte Lisa all die erlittenen Ängste auf einen Punkt.
Nach diesem lebensgefährlichen Marsch weiterhin schwarz über die Grenze zu gehen, verbot sich von selbst. Ab jetzt fuhren wir nur noch mit dem Zug und einer ordentlichen Aufenthaltsgenehmigung. Eine Reiseerleichterung war das allerdings nicht. Denn nun waren wir den schikanösen Kontrollen der herrischen Grenzbeamten ausgesetzt.
Aber wo ich mich jetzt an die vielen Male erinnere, die wir zu Fuß über die grüne Grenze gegangen sind, um unsere Großmutter zu besuchen, denke ich mir: Eigentlich bin ich als kleines Kind schon gepilgert.
Mich fröstelt, es ist deutlich kühler geworden. Während ich in meine Erinnerungen versunken dahinwanderte, ist mir gar nicht aufgefallen, dass sich von Westen her dicke schwarze Wolken herandrängen. In dieses Gewitter will ich nun nicht unbedingt geraten. Ich überlege, ob ich nicht zuvor eine Herberge ansteuern könnte. Da ich schon eine Weile auf einer schmalen Straße leicht bergab gehe, habe ich die höchste Stelle der heutigen Etappe offenbar überwunden. Es sollte also möglich sein, schnell vorwärtszukommen. Da fährt ein Taxi an mir vorbei. Auf mein Winken kommt es zurück, und ich komme gerade noch in Palas de Rei an, ehe es anfängt zu gießen.
Die Herberge ist so kalt, dass ich mir ein Bett oben unter dem Dach suche. Dort scheint es mir wärmer. Mindestens 30 dicht an dicht gedrängte Räder zähle ich unter dem Vordach einer Bar, während in der Bar die Radpilger das Gewitter abwarten.
Von Palas de Rei nach Ribadiso
O Lust vom Berg zu schauen
weit über Welt und Strom,
hoch über sich den blauen,
tiefklaren Himmelsdom!
Joseph von Eichendorff
D ie Hoffnung, dass mein Fuß besser würde, habe ich aufgegeben. So fahre ich die ersten 15 Kilometer bis Melide mit dem Bus. Nach einem ausgiebigen Frühstück bin ich dann wieder per pie auf dem Camino. Unter großen alten Bäumen, in denen die Vögel singen, gehe ich an einem Hang entlang. Unten im Tal schwirren die Schwalben hin und her, Lerchen erheben sich trillernd dem blauen Himmel entgegen. Über dem Wasserlauf senkt sich der Morgennebel. Ich atme tief durch und sage Danke für diesen schönen Tag.
In Boente, einem winzigen Ort, in dem man einen Hang hochkommt und die Landstraße überqueren muss, kommt uns der Pfarrer entgegen. Ganz zufällig wandere ich gerade in einer größeren Gruppe. Der Geistliche geleitet uns in seine Kapelle, gibt jedem die Hand und stempelt den Pilgerpass. Jeder Pilgertag bringt mir etwas Neues und Wunderbares, heute beispielsweise diese besonders herzliche Begrüßung. Noch schöner wird es dadurch, dass es in diesem kleinen Kirchlein angenehm kühl ist - eine willkommene Erholung nach dem Anstieg in der Sonne.
Ich lasse den Wald hinter mir. Felder säumen nun meinen Weg, durchzogen von Bachläufen; rechts und links des Weges stehen manchmal einzelne Häuser oder Bauernhöfe. In glücklicher Einsamkeit gehe ich so vor mich hin.
Immer wieder passiere ich alte Mauern aus grobem Naturstein. Ich liebe diese für die spanische Landschaft so typischen Mauern mit ihrem grünen Moosbewuchs und den kleinen Blümchen, die sich zwischen den Steinlücken hervorzwängen.
Ein sandiger und steiler Weg bergauf beendet meine Bequemlichkeit. Danach geht es plötzlich bergab, dann wieder hinauf - und schließlich blicke ich weit hinunter in das Tal mit dem Fluss Iso und der Herberge, genau wie in meinem Buch beschrieben.
Ich bin sehr zufrieden mit diesem Tag: Ich bin durch eine wunderbar einsame Landschaft gepilgert und habe diese zwölf Kilometer trotz meiner Ferse überraschend gut geschafft.
Das einzige Haus weit und breit ist das Gasthaus hier
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