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Mein Jakobsweg

Mein Jakobsweg

Titel: Mein Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Sauer
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nächstgelegenen Bahnhöfen statt, so wie in den ersten Jahren nach dem Krieg auch in Westdeutschland die Bahnhöfe einer besonders gründlichen Kontrolle unterlagen. Und um da nicht reinzugeraten, ging Mutti grundsätzlich zu dem übernächsten Bahnhof oder zu einem noch entfernteren. Nur einmal kam es auf einem Bahnhof zu einer Schießerei. Aber Mutti behielt die Übersicht und konnte uns, verdeckt durch ein Gebäude, zur Straße bringen.
    Auf dem Rückweg wurden wir dann nicht so einfach durchgelassen, sondern wegen fehlender Papiere zur Kommandantur gebracht. Es ging der Reihe nach, wir waren nicht die einzigen Festgenommenen. Nach einer ganzen Weile empfing uns ein freundlicher Herr. Dann plauderte er ein wenig mit Mutti, ließ sich von uns die Geschenke zeigen und rief einen jungen Soldaten, der uns wieder zur Grenze brachte.
    Das klappte immer ganz gut, bis einmal auf der Rückreise auf irgendeinem Bahnhof kein Zug in unsere Richtung mehr fuhr. So war es spät am Abend, wohl eher finstere Nacht, als wir eine Station vor Oebisfelde dem Zug entstiegen. Über Feldwege näherten wir uns nun Oebisfelde, immer darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. Kurz vor dem Ort aber meinte Mutti, wir sollten jetzt mal kräftig singen, damit sie wissen, dass hier Kinder kommen und keine Verbrecher. Im Schein der einzigen Laterne, die Brücke war nur noch ein paar Meter entfernt, erwarteten uns zwei Volkspolizisten. Sie fackelten nicht lange und sperrten uns in einen Kellerraum. Am folgenden Morgen sagte der Kommandant: Sie machen auch Sachen, gehen nachts hier singend zur Grenze.
    Besser, als erschossen zu werden, gab Mutti zur Antwort. Die Stimmung war nicht gut an diesem Morgen. Obwohl ich glaube, dass sie sich sehr sympathisch waren, meine Mutti und der Kommandant. Ich denke gern an diesen Mann zurück, der immer freundlich auch mit uns Mädchen war. Leben Sie wohl, rief er uns im Flur noch nach. Ein Soldat begleitete uns. Wie immer trug er auch das Gepäck von meiner Schwester und mir. Das war das letzte Mal, dass wir an dieser Stelle über die Aller gingen. Dieser Grenzübergang wurde »dicht gemacht«. Später wurde sogar die Brücke noch in der Mitte durchgesägt.
    Bei Helmstedt sollte ein großes Waldgebiet noch »durchlässig« sein. Die Anreise war umständlich und zeitraubend. Mutti kannte sich nicht genügend aus, und der Weg durch die Wälder und zu den nächstgelegenen Bahnhöfen war wesentlich länger. Im Sommer ging das noch, da waren die Tage lang.
    Aber dann zu Weihnachten! Muttis Wegbeschreibung stimmte nicht. So irrten wir durch den Wald, bis sie sich einer anderen Gruppe anschloss. Am Ende waren wir über 30 Kilometer gegangen. Eine ganz schöne Leistung für ein sieben- und ein neunjähriges Mädchen! Meine elenden Schuhe aus Pappe, die eigentlich ganz nett aussahen, vergesse ich nie. Inzwischen hatte ich eine große Blase an einer Hacke und konnte kaum mehr laufen. Schließlich klopfte einer der Männer aus der Gruppe mit einem Stein die Ferse meines Schuhs nieder. Ich trug den Schuh nun wie einen Pantoffel, wodurch der Schmerz nachließ.
    Über dem Weihnachtsfest hing die bange Frage, ob wir wohl das letzte Mal zusammen waren. Omi weinte viel, sogar beim Singen der Weihnachtslieder. Sie hatte alles so schön vorbereitet, so viel gutes Essen und so viele Geschenke, darüber vergaßen wir Mädchen den Rückweg.
    Wir kommen wieder, Omi, spätestens im nächsten Sommer. Es wird schon gut gehen. Der Zug brachte uns zu irgendeinem Ort nahe der Grenze. An unseren Rucksäcken hatten wir schwer zu tragen, zumal Lisa ein Akkordeon bei sich hatte - ihr Weihnachtsgeschenk von Omi.
    Zuversichtlich betraten wir den Wald. Sogleich aber schien uns hier alles verändert. Wo sonst tiefe Stille herrscht, war es beängstigend unruhig. Immer wieder schreckten laut krächzend die Krähen auf und flogen über den Bäumen davon; andauernd raschelte es irgendwo neben oder hinter uns. Die Amseln erschreckten uns mit ihrem schrillen Warnruf und stürzten über den Waldboden davon. Dann hörten wir etwas entfernter einen Schuss und eine Männerstimme, die Stoj rief.
    Das sind Russen! Lisa und ich hatten furchtbare Angst. Wir wollten weglaufen und zerrten an unserer Mutter. Nur schnell raus aus diesem Wald!
    Irgendwie gelang es ihr, uns zurückzuhalten. Wir sind sicherer, wenn wir weitergehen, sagte sie. Da vorne liegt ein Stamm, da machen wir erst mal Rast. Esst und trinkt jetzt anständig, wer weiß, wann wir das Nächste

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