Mein Jakobsweg
des Rucksacks. Meine Kräfte schwinden: Ich bin zu früh aufgestanden, hatte zu wenig Schlaf und auch bisher zu wenig gegessen. Gerade nehme ich meinen letzten Schluck Wasser und bereue, nicht mit den anderen in die öffentliche Herberge gegangen zu sein. Da fasst mich eine alte Spanierin am Arm und zieht mich ein paar Schritte zurück zu einer Treppe. Da unten müsse ich gleich nach rechts gehen.
Hier runter und dann rechts? Ob das wohl richtig ist? Ich mache ihre Bewegungen nach, um mich zu vergewissern.
Sí, sí, sagt sie und bestätigt mit ihrer Hand den Weg.
Schnell geht sie weiter; ich rufe, gracias, señora, und wende mich der Treppe zu. Bleib ganz ruhig, atme ganz tief. Dann taste ich mich Schritt für Schritt die Treppe hinunter. 100 Stufen vielleicht. Gleich rechts kommt ein kleines Lokal, hier kann man also essen. Zwei Türen weiter finde ich die Herberge.
Mit zitternden Knien stehe ich vor Maria, einer sehr jungen Spanierin, die, wie ich später erfahre, die Eigentümerin dieser Herberge ist. Sie schiebt mir einen Stuhl zurecht und bietet mir zu trinken an. Mir fällt kein spanisches Wort ein. Sie fragt, ob ich Englisch könne, liest in meinem Pilgerpass und ruft Mea. Mea sagt auf Deutsch: Schön, dass du da bist, komm, ich zeige dir dein Bett.
Ich lasse mich von Mea führen; so richtig klar denken kann ich in diesem Moment nicht. Ganz plötzlich kullern Tränen, Tränen der Freude über mein Gesicht. Ich weiß, sagt sie, und nimmt mich ganz fest in den Arm. Du bist einen weiten Weg gegangen, bei uns kannst du dich ausruhen. Erschöpft lege ich mich nieder.
Doch gleich fällt mir Peter ein. Sie haben sogar ein Münztelefon. Mea wählt für mich, weil ich so nervös bin. Wie herrlich! Peter ist zu Hause, und ich rufe ins Telefon, Peter, ich bin angekommen, ich bin in Santiago! Stell dir vor, ich hab’s wirklich geschafft.
Auch er ist überglücklich und gratuliert mir und lobt mich, weil ich durchgehalten habe. Meinen Flug habe er bereits umgebucht, aber die 50 Euro Gebühr müsse ich in Santiago bezahlen. Er würde mir gern Geld schicken, wenn er nur wüsste, wohin.
Ich habe immer noch 170 Euro, versichere ich ihm, ich komme gut zurecht. Er wundert sich, weil ich ja nur 400 Euro mitgenommen hatte.
Küsschen hin und Küsschen her, ich liebe dich.
Und Peter, es geht mir gut, mach dir bitte keine Sorgen. Das habe ich, glaube ich, bei jedem Telefonat gesagt.
Wenn du noch zur Messe willst, holt mich Mea aus meinen Gedanken, musst du dich aber beeilen, es ist gleich halb zwölf.
Meinst du, ich schaffe das noch? Hastig ziehe ich mir ein frisches T-Shirt an.
Als hätte die Linie sechs auf mich gewartet, steht der Bus schon oben an der Haltestelle. In der Eile hatte ich vergessen zu fragen, wann ich aussteigen muss. Doch der freundliche Herr gegenüber ist mir behilflich.
Wieder folge ich einer Gruppe Pilger. Mit ihnen, denke ich, müsste ich schon ankommen. Als hätte ich alle Last abgeworfen, ist mir mein Körper plötzlich so leicht, dass ich durch die kleinen Gassen zu schweben glaube. Während ich den Stimmen der Pilger folge, sehe ich nur ihre blauen Halstücher. Später kann ich mich wirklich nicht mehr an die Straßen erinnern, durch die wir gegangen sind.
Unmittelbar vor der Kathedrale ist das Pilgerbüro. Auch dorthin folge ich den blauen Halstüchern. Für jede Sprache gibt es eine Sachbearbeiterin. In der Gruppe vor mir sind keine Deutschen, deshalb komme ich sofort dran. Die junge Dame kontrolliert meinen Pilgerpass und trägt meinen Namen zusammen mit anderen Angaben in ein großes, dickes Buch ein. In der Pilgerurkunde sollte der Vorname auf Lateinisch stehen, aber meinen sucht die Señora in ihrem Register vergeblich. Schade! Ich bedaure, meinen zweiten Vornamen nicht angegeben zu haben — vielleicht hätte er sich leichter ins Lateinische übertragen lassen, obwohl er seltener ist.
Ob ich auch in der Kathedrale genannt werden wolle, fragt sie mich zum Schluss.
Aber ja, das ist mein größter Wunsch, davon träume ich seit Jahren! Ich kann es kaum mehr erwarten, füge ich begeistert hinzu.
Schnell trägt sie mich noch in die Liste ein, ehe diese nun endgültig hinüber zur Kathedrale gebracht wird. Moment, sagt sie, als auch ich gehen will. Der Priester wird sagen: Unamujer alemana que viene de Burgos, das heißt: Eine deutsche Frau, aus Burgos kommend. Können sie sich das merken?
Sí, señora, y gracias.
Nur ein paar Stufen noch, und endlich ist die Kathedrale erreicht. Ich
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