Mein Jakobsweg
öffne das große schwere Portal. Nichts ist mehr von Bedeutung, als hier zu sein und diesen Augenblick auszukosten. In tiefem Schweigen stehen wir Pilger, als der Klang der Orgel die Messe ankündigt.
Ganz vorsichtig, Schritt für Schritt, gelingt es mir, bis zu dem seitlichen Säulengang vorzudringen. Dort finde ich auf dem steinernen Sockel einer Säule noch ein kleines Eckchen zum Sitzen.
Es folgt der Gesang einer einzigen Frauenstimme. Hell und klar erreicht sie uns in jedem Winkel der Kathedrale. Über einen Monitor könnte ich das Geschehen am Altar verfolgen. Doch ich bin so fasziniert von dieser reinen Stimme, dass ich die Augen schließe und mich in der Melodie wiege.
Ganze Gruppen drängen noch herein. Der Priester begrüßt uns peregrinos, die wir aus aller Welt nach Santiago gepilgert sind, und beginnt mit der Aufzählung. Ganz unerwartet steht plötzlich Norbert neben mir. In Andacht schweigend, lauschen wir gemeinsam den Worten des Priesters.
Er nennt Australien, Japan, Uruguay, Warschau und immer wieder Städte Spaniens und Portugals. Italien, Frankreich und Deutschland werden oft genannt. Die skandinavischen Länder, Island, Rumänien, Haiti und Kanada, Amerika und wieder Portugal, England, Teneriffa, Holland, Belgien, Hawaii, Sizilien, Österreich, Argentinien, Schweiz, die Philippinen, Lettland und Russland - es geht offenbar um die jungen Russen, denen ich begegnet bin. Erneut Spanien und Italien, Brasilien und Griechenland.
Auch ich bin dabei, unamujer alemana que viene de Burgos.
Das war ich, flüstere ich Norbert zu. Ein leises, andächtiges Ja ist die Antwort.
Beim Verlassen der Kathedrale verlieren wir uns in dem Gedränge. Draußen formieren sich Musiker und Trachtengruppen. Unten beim Brunnen spielt eine Dixie-Band. Im Rausch der Freude singen wir Pilger die Oldies mit, halten uns bei den Händen und umarmen uns. Viele tanzen sogar. Wo ich auch hinschaue, ich sehe nur glückliche Gesichter. Das ist wahrhaft ein Freudentag. Für alle von uns, die wir Santiago erreicht haben.
Unverhofft umarmt mich eine junge Französin und küsst mich auf beide Wangen. Sie lässt mich gar nicht mehr los, bis ihr Partner hinzukommt. Aus ihren sehr wortreichen Schilderungen verstehe ich »Carrión de los Condes« und »malade«.
Krank? Ah, ich erinnere mich! Sie ist die Französin mit dem hohen Fieber. Oui, oui, sagt sie, und etwas, das mit Medizin zu tun hat, trèsbon, sagt sie: sehr gut.
Merci, madame, auch er legt seine Arme um mich. Schade, dass wir uns wegen der Sprachschwierigkeiten nicht besser unterhalten können.
Wie überall im Land, so halten die Spanier auch in Santiago de Compostela ihre Siesta. Die Musiker sind gegangen, nach und nach verlassen auch die Gläubigen den Platz. Es wird still im weiten Rund vor der Kathedrale. Ich schaue auf zu dem riesigen Portal. Die vielen Stufen lassen die Kathedrale noch größer erscheinen. Generationen von Steinmetzen haben hier ein Kunstwerk geschaffen. Über Jahrhunderte hinweg haben sie stetig neue Türme und Fenster, Skulpturen und Säulen hinzugefügt und die Kathedrale auch in ihrer Gesamtheit vergrößert.
Auf den Säulen des Pórtico de la Gloria, des seit Langem überbauten ehemaligen Eingangstors, stehen lebensgroße Figuren. In ihrer Mitte schaut mit gnädigem Blick der heilige Jakobus auf mich herab. Sein Pilgergewand hat er gegen leicht fließende Gewänder eingetauscht, so sieht er eher wie ein gütiger Herrscher aus. Als sollten wir uns dort eintragen, breitet er mit der rechten Hand eine Papyrusrolle aus. Vielleicht steht dieses unbeschriebene Blatt aber auch für die Vergebung aller Sünden.
Ich glaube nicht an diese Art von Vergebung. So werde ich wohl meine großen und kleinen Sünden und meine vielen Irrtümer wieder mit mir nehmen müssen. Doch vielleicht habe ich Glück, und die Wertigkeiten verschieben sich im Laufe meines Lebens hin zu einer anderen Sicht der Dinge. Mein Wunsch für mein Alter wäre, mit mir selbst etwas nachsichtiger zu sein und meine Fehler gelassener sehen zu können.
In ihrem Inneren wirkt die Kathedrale trotz ihrer Größe eher anheimelnd und familiär. In die Betrachtung der Kunstwerke versunken, gelange ich in eine schöne Seitenkapelle. Hier zünde ich ein Licht für Michael an. Ein weiteres Licht entzünde ich für meine Familie und ein drittes für meine Mitpatientin von der Mosel. Sie hat mich darum gebeten, als ich ihr von meiner geplanten Pilgerreise erzählte. Später schreibe ich ihr eine
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