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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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interessant, und ich glaube, daß es sich lohnt, die näheren Einzelheiten zu beschreiben.
    Um fünf Uhr morgens stand ich an der Ecke der Brustwehr. Das war immer eine gefährliche Zeit, denn wir hatten die Morgendämmerung hinter unserem Rücken, und wenn man den Kopf über die Brustwehr hinaussteckte, hob er sich deutlich gegen den Himmel ab. Vor dem Wachwechsel sprach ich mit dem Wachtposten. Plötzlich, mitten im Satz, spürte ich – nun, es ist sehr schwer zu beschreiben, was ich spürte, obwohl ich mich mit äußerster Anschaulichkeit daran erinnere.
    Grob gesprochen hatte ich das Gefühl, mich im Zentrum einer Explosion zu befinden. Es war wie ein lauter Knall und ein blendender Lichtblitz, der mich ganz umschloß, zugleich fühlte ich einen gewaltigen Stoß – keinen Schmerz, nur einen heftigen Schock, wie man ihn bei einem elektrischen Schlag bekommt. Dabei hatte ich ein Gefühl äußerster Schwäche, als ob ich zerschlagen werde und zu einem Nichts einschrumpfe. Die Sandsäcke vor mir traten in eine unendliche Entfernung zurück. Ich glaube, man fühlt dasselbe, wenn man von einem Blitz getroffen wird. Ich wußte sofort, daß ich getroffen worden war, aber wegen des Knalles und Blitzes dachte ich, es sei von einem Gewehr, das zufällig in der Nähe losgegangen war. Alles ereignete sich in einem Zeitraum von weniger als einer Sekunde. Im nächsten Augenblick wurden meine Knie weich und ich fiel, dabei schlug mein Kopf mit einem heftigen Schlag auf den Boden, was ich zu meiner Erleichterung aber nicht spürte. Ich hatte ein dumpfes, betäubendes Gefühl, das Bewußtsein, daß ich sehr schwer verwundet worden war, aber keinen Schmerz in normalem Sinne.
    Der amerikanische Wachtposten, mit dem ich mich unterhalten hatte, stürzte auf mich zu. »Bei Gott! Bist du getroffen?« Die Männer kamen herbei. Es gab die übliche Aufregung: »Hebt ihn auf! Wo hat es ihn erwischt? Macht sein Hemd auf!« Der Amerikaner fragte nach einem Messer, um mein Hemd aufzuschneiden. Ich wußte, daß ich eins in meiner Tasche hatte, und versuchte es herauszunehmen, aber dann entdeckte ich, daß mein rechter Arm gelähmt war. Ich hatte eine gewisse Genugtuung, daß ich keine Schmerzen fühlte, und ich dachte, darüber wird sich meine Frau freuen. Sie hatte sich immer gewünscht, daß ich verwundet würde, denn sie sagte, dadurch werde mir erspart, in der großen Schlacht getötet zu werden. Erst jetzt begann ich mich zu fragen, wo ich getroffen worden war und wie schlimm. Ich konnte nichts fühlen, aber ich war mir bewußt, daß die Kugel mich irgendwo vorne am Körper getroffen hatte. Als ich versuchte zu sprechen, merkte ich, daß ich keine Stimme hatte, nur ein schwaches Gurgeln. Aber beim zweiten Versuch gelang es mir zu fragen, wo ich getroffen worden sei. Sie sagten, am Hals. Harry Webb, der unsere Tragbahre versorgte, brachte ein Verbandspäckchen und eine kleine Flasche mit Alkohol, die man uns für die Erste Hilfe gegeben hatte. Als sie mich aufhoben, stürzte eine Menge Blut aus meinem Mund, und ich hörte, wie ein Spanier hinter mir sagte, die Kugel sei genau durch meinen Hals hindurchgegangen. Ich fühlte, wie der Alkohol, der normalerweise wie die Hölle brennen würde, mit angenehmer Kühle auf meine Wunde spritzte.
    Sie legten mich wieder hin, während einige Männer die Tragbahre holten. Sobald ich wußte, daß die Kugel meinen Hals glatt durchschlagen hatte, war ich davon überzeugt, daß es mit mir zu Ende sei. Ich hatte noch nie von einem Mann oder einem Tier gehört, dem eine Kugel mitten durch den Hals geschossen wurde und der dann am Leben blieb. Aus meinem Mundwinkel tropfte Blut. Ich glaubte, die Arterie sei durchschlagen. Ich wunderte mich, wie lange man wohl noch lebt, wenn die Halsschlagader durchschnitten ist. Vermutlich nicht viele Minuten. Alles war sehr verschwommen. Zwei Minuten lang etwa muß ich angenommen haben, daß ich schon tot sei, und auch das war sehr interessant; ich meine, es ist interessant zu wissen, was für Gedanken man in solch einem Augenblick hat. Mein erster Gedanke beschäftigte sich konventionell genug mit meiner Frau. Mein zweiter Gedanke war ein leidenschaftlicher Widerspruch dagegen, daß ich die Welt verlassen sollte, die mir alles in allem ganz gut gefiel. Ich hatte Zeit genug, das sehr lebhaft zu empfinden. Dieses dumme Unglück machte mich richtig wütend. So eine sinnlose Geschichte! Wegen der Sorglosigkeit eines Augenblickes nicht einmal in der Schlacht, sondern in der

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