Mein Katalonien
Front oder tot. Ein bestimmter Prozentsatz unter uns war immer vollständig nutzlos. Fünfzehnjährige Jungen wurden von ihren Eltern ganz offen nur deshalb zum Eintritt in die Armee gebracht, um die zehn Peseten täglich zu verdienen, die ein Milizsoldat als Lohn erhielt; gleichzeitig aber auch wegen des Brotes, das die Milizangehörigen so reichlich bekamen und das sie nach Hause zu ihren Eltern schmuggeln konnten. Aber ich möchte den sehen, der nicht mit mir übereinstimmt, wenn er unter die spanische Arbeiterklasse gerät wie ich – ich sollte vielleicht sagen, unter die katalanische Arbeiterklasse, da ich außer mit einigen Aragoniern und Andalusiern nur mit Katalanen zusammenkam –, der dann nicht von ihrer grundsätzlichen Anständigkeit beeindruckt ist; vor allem von ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Großzügigkeit. Die spanische Freigebigkeit, im gewöhnlichen Sinn des Wortes, kann einen manchmal fast in Verlegenheit bringen. Wenn man einen Spanier um eine Zigarette bittet, zwingt er einem das ganze Päckchen auf. Und darüber hinaus gibt es noch Großzügigkeit in einem tieferen Sinn, eine wahre Großmütigkeit der Gesinnung, der ich immer wieder unter den aussichtslosesten Umständen begegnet bin. Einige Journalisten und andere Ausländer, die während des Bürgerkrieges durch Spanien gereist sind, haben erklärt, daß die Spanier insgeheim bitter eifersüchtig auf die ausländische Hilfe waren. Ich kann nur sagen, daß ich niemals etwas Derartiges beobachtet habe. Ich entsinne mich, daß, wenige Tage bevor ich die Kaserne verließ, eine Gruppe von Männern auf Urlaub von der Front zurückkam. Sie unterhielten sich angeregt über ihre Erfahrungen und waren voller Begeisterung über französische Truppen, die bei Huesca neben ihnen gelegen hatten. Sie sagten, die Franzosen seien sehr tapfer gewesen, und fügten enthusiastisch hinzu: »Mas valientes que nosotros« – »Tapferer, als wir es sind!« Natürlich äußerte ich Bedenken, worauf sie erklärten, die Franzosen verstünden mehr von der Kriegskunst – sie könnten besser mit Bomben, Maschinengewehren und dergleichen umgehen. Gleichwohl war die Bemerkung bezeichnend. Ein Engländer würde sich eher die Hand abschneiden, als so etwas zu sagen.
Jeder Ausländer, der in der Miliz diente, verbrachte die ersten Wochen damit, die Spanier liebenzulernen und sich gleichzeitig über einige ihrer Eigenschaften zu ärgern. An der Front erreichte meine eigene Verärgerung manchmal den Gipfel der Wut. Die Spanier sind in vielen Dingen sehr geschickt, aber nicht im Kriegführen. Ohne Ausnahme sind alle Ausländer über ihre Unfähigkeit erschrocken, vor allem ihre unbeschreibliche Unpünktlichkeit. Kein Ausländer wird es vermeiden können, ein spanisches Wort zu lernen, es heißt ›manaña‹ -»morgen«. Wenn es nur irgendwie möglich ist, wird eine Arbeit von heute auf ›manaña‹ verschoben. Das ist so weltbekannt, daß sogar die Spanier selbst Witze darüber machen. In Spanien ereignet sich nichts zur angesetzten Zeit, sei es eine Mahlzeit oder eine Schlacht. In der Regel geschieht alles zu spät. Nur rein zufällig – damit man sich selbst darauf nicht verlassen kann, daß sich etwas spät ereignet – geschieht es manchmal zu früh. Ein Zug, der um acht Uhr abfahren soll, wird normalerweise irgendwann zwischen neun und zehn abfahren, aber vielleicht einmal in der Woche fährt er dank einer persönlichen Laune des Lokomotivführers um halb acht ab. So etwas kann natürlich ein wenig anstrengend sein. Theoretisch jedoch bewundere ich die Spanier, weil sie unsere nordeuropäische Zeitneurose nicht teilen; aber unglücklicherweise bin ich selbst davon befallen.
Nach endlosen Gerüchten, ›manañas‹ und Verzögerungen erhielten wir plötzlich den Befehl, uns innerhalb von zwei Stunden zur Front in Marsch zu setzen, als ein großer Teil unserer Ausrüstung noch nicht ausgegeben war. Auf der Kammer gab es furchtbare Tumulte,- zum Schluß mußte eine große Anzahl Leute ohne ihre volle Ausrüstung abmarschieren. Die Kaserne war rasch voller Frauen, die aus dem Boden zu wachsen schienen und ihrem Mannsvolk halfen, ihre Decken zusammenzurollen und ihre Rucksäcke zu packen. Es war sehr demütigend für mich, daß mir ein spanisches Mädchen, die Frau von Williams, dem anderen englischen Milizsoldaten, zeigen mußte, wie ich meine neuen ledernen Patronentaschen anzuschnallen hatte. Sie war ein liebenswürdiges, dunkeläugiges und höchst weibliches Geschöpf.
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