Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Koerper und ich - Freund oder Feind

Mein Koerper und ich - Freund oder Feind

Titel: Mein Koerper und ich - Freund oder Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanne Seemann
Vom Netzwerk:
Migräneanfalls wissen möchten, lesen Sie bei Sacks (2004) oder Seemann (2002) nach.
    Gemeinhin stellt man sich unter einer Migräne heftige Kopfschmerzen vor – aber weit gefehlt. Schmerzen sind nur ein kleiner, wenn auch besonders unschöner Teil des Geschehens. Es handelt sich nämlich um einen massiven Zusammenbruch sehr vieler Funktionen des Organismus, der dabei aus seiner geordneten Arbeitsweise buchstäblich herausfällt. Man könnte auch sagen, die ansonsten wohlgeordneten Systemfunktionen stürzen ins Chaos ab.
    Ein Migräneanfall kann mit seltsamen Halluzinationen, d. h. Wahrnehmungsstörungen, beginnen, die man als Migräne-Aura bezeichnet. Leichtere sensorische Wahrnehmungsstörungen wie Licht- und Geräuschempfindlichkeit sind aber die Regel und gehören als sogenannte Leitsymptome zur Differenzialdiagnostik der Migräne – sie kommen aber auch manchmal bei Kopfschmerzen des Spannungstyps vor. Licht erscheint grell, flackernd – Geräusche, besonders Stimmen, unerträglich laut. Ein anderes Kriterium, an dem man erkennt, ob es sich um Migräne handelt: Wenn sich der Schmerz beim Treppensteigen verschlimmert – beim Spannungskopfschmerz tun er das nicht.
    Bei den Wahrnehmungsstörungen einer Migräne-Aura, die ungefähr eine halbe Stunde andauern kann, erleben die Betroffenen eine Veränderung der sichtbaren Welt: Die Gegenstände zerfallen zum Beispiel in Teile, sie werden größer oder schrumpfen, Lichtpunkte wandern durch das Gesichtsfeld, es erscheinen gezackte Gebilde wie die Zinnen auf Festungstürmen, aber auch bunte rotierende Strudel und noch viele andere Bilder. Patienten mit einer Migräne-Aura sprechen nicht gern über ihre visuellen Halluzinationen – weil sie wissen, dass diese auch als Leitsymptom von Psychosen gelten, und in diese diagnostische Ecke möchten sie nicht geraten. Und da diese Phänomene nach 20 bis 30 Minuten wieder vergehen, gibt es dazu auch gar keinen Anlass. Es gibt allerdings auch sogenannte isolierte Auren – auf die dann kein weiterer Migräneanfall folgt, und da ist es gut zu wissen, dass man sich beim Beginn der Aura am besten mit geschlossenen Augen hinlegt.
    Wenn man sich manche Werke der modernen abstrakten Kunst ansieht, so finden wir fast alle Aura-Phänomene abgebildet, wie sie von Migränepatienten in dieser Phase eines Anfalls gesehen werden. Zweierlei ist daran erstaunlich: Die betroffenen Patienten haben in dieser Phase keinerlei Bewusstsein davon, dass es sich um Wahrnehmungsverzerrungen handelt, obwohl sie derlei schon viele Male erlebt haben – die modernen Künstler hatten keine Ahnung von einer Aura, weil die meisten von ihnen gar keine Migräne hatten. Bei Lewis Carroll, dem Autor von Alice im Wunderland, ist das zwar nicht geklärt – er hat in Alice hinter den Spiegeln jede Menge Wunderlichkeiten beschrieben, die allesamt Aura-Phänomene sein könnten. Ein anderes, oft sehr irritierendes Aura-Phänomen ist z.B. die Halbseitenblindheit, bei der nur noch die eine Hälfte der Realität sichtbar ist, während die andere Hälfte völlig fehlt. Ein Schulkind kann dann nicht aus einem Buch vorlesen, ein Autofahrer keine Verkehrsschilder und den Verkehr auf der anderen Straßenseite erkennen – ein normaler Umgang mit der räumlichen Umgebung ist dann nicht möglich. Mehr darüber und zu den vielen schillernden Facetten und Ausdrucksformen der Migräne-Aura findet sich bei Oliver Sacks (2004).
    Auch Stimmungslabilität, Hautüberempfindlichkeit, erhöhte Geruchsempfindlichkeit, unwillkürliches Gähnen, Gefühlsstörungen bis hin zu Lähmungen in Armen und Beinen treten als Vorboten der Migräne auf, sind aber oft nur schwer als solche zu deuten.
    Die meisten Migräneanfälle ohne vorhergehende Aura beginnen mit einem Flimmern des Lichts, gefolgt von Übelkeit, oft auch Erbrechen, Kopfschmerzen, manchmal Durchfall, Harndrang und allen möglichen anderen vegetativen Symptomen – immer jedoch mit dem unabweislichen Drang, sich zurückzuziehen, die Vorhänge zuzuziehen, niemanden um sich und einfach nur Ruhe zu haben. Also ein Bedürfnis, das das genaue Gegenteil der vorherigen Überlastungssituation mit ihrer Reizüberflutung darstellt. Wie ist dieser ganze Vorgang zu verstehen? Es ist der Organismus selbst, der ein instinktives Bedürfnis nach Reizabschirmung in Gang setzt, weil er selbst nicht über genügend Filtersysteme verfügt, um sich zu schützen. Er sagt: Zieh die äußeren Vorhänge zu, wenn die inneren fehlen. Wenn Menschen mit einer

Weitere Kostenlose Bücher