Mein Koerper und ich - Freund oder Feind
individuellen Kompetenzen nicht entsprechen. Scham, wenn man gedemütigt wird.
Obwohl wir zu Recht davon ausgehen, dass die frühe Lebenszeit von den Kindern vor allem Leistungen verlangt, die der Anpassung an die Umwelt dienen – also ein Hineinwachsen in die Welt, wie sie gerade ist –, so fällt doch auf, dass viele Kinder auf ihre Umwelt, die Schule insbesondere, mit Anpassungsstörungen reagieren. Herumzappeln, nicht aufpassen, stören, verweigern, schwänzen – oder aber die eher »passiven« funktionellen Störungen wie Kopfschmerzen, Bauchweh, Übelkeit, Schwächezustände, die ich ebenfalls zu den Anpassungsstörungen zähle. Hier ist es, bei einem durchaus anpassungswilligen Kind, der Körper, der sagt: »Ich kann nicht!«
Das ist natürlich eine ausweglose Situation für alle Beteiligten, außer natürlich für den Körper, der darf im Bett bleiben. Alle anderen, zuvorderst das Kind, die Eltern, die Schule, wissen nicht, was sie tun sollen – Druck machen nützt in diesem Fall nämlich nichts, weil es ja gerade Druck ist, der die ganze Sache ausgelöst hat. Ich nenne eine solche Situation eine Muss-Falle: Wenn ich immer (etwas tun) muss, dann muss ich nur dann nicht, wenn ich krank bin – dann brauch ich nicht! Der Körper, dieser schlaue Kerl, weiß das natürlich genau und wird immer häufiger krank, um sich der ungeliebten Situation zu entziehen. Wie gesagt: eine echte Zwickmühle. Wie kommt man da heraus? Indem man die Parole ausgibt: Wenn ich (mal) nicht möchte, brauche ich nicht – dann nehme ich mir einen Hängematten-Tag.
In Fällen mit einem wiederkehrenden Muss-Fallen-Muster verordne ich regelmäßige, sagen wir ein bis zwei, Hängenmatten-Tage im Monat, was heißt: Das Kind nimmt sich einen Tag frei – einen guten Tag wohlgemerkt – und macht damit, was es mag – außer hinausgehen, weil es »offiziell« krank ist. Die Mutter schreibt eine Entschuldigung mit der früher üblichen psychosomatischen Störung – die sich allerdings sogleich zurückziehen wird, was uns aber nur recht sein kann.
Mit dieser Finte wird eine maligne Form des Eskapismus ersetzt durch eine der freien Wahl: Das Kind lernt, dass es – in Maßen – über sich selbst und seine Zeit verfügen kann und dass es dafür mit Sorgfalt einen passenden Tag auswählen muss. Eskapismen des Körpers werden nach meiner Einschätzung zur Zeit häufiger – je weniger sich die Kinder trauen, sich unzumutbaren Anforderungen aktiv zu entziehen. Eine besondere Form des Sich-davon-Stehlens ist das (unwillkürliche) Schlafen in der Schule – was Lehrer, soweit ich gehört habe ziemlich ärgert, obwohl es doch den Unterricht gar nicht stört.
Bei psychosomatischen Störungen kann man dem Körper nicht mit Moral kommen, dem Kind aber auch nicht, denn es kann nichts dafür, d. h., es ist seinem Körper ausgeliefert.
Fassen wir zusammen: Schon das kleine Kind hat offenbar ein inneres Bild davon, wie es sein sollte, das Leben – starke Verstöße dagegen machen krank. Das Kind »weiß« das nicht etwa, weil es ihm gesagt wurde. Auch Kinder, die noch nie so etwas erlebt haben wie Aufrichtigkeit, Geborgenheit, Wahrhaftigkeit, Fairness, Vertrauen, auch Schönheit übrigens, haben eine Sehnsucht und ein Streben danach.
Wie kommt das? Es sind eingeborene Ideen oder Archetypen, wie Carl Gustav Jung diese Vorstellungen genannt hat – was darauf hindeutet, dass sie sehr alt sein müssen. Sie kommen also aus den Vorzeiten, wo die heute hochkultivierte Gesellschaft nur primitive Lebens- und Denkformen vermutet. Dass gerade die kleinen Kinder ein genaues Gespür dafür haben, was recht und unrecht ist – etwas, was sie nicht begründen können, worauf sie aber spontan reagieren –, findet wenig Beachtung. Hier kommt wieder die Intelligenz des Organismus zum Tragen – die allerdings vom später wohlerzogenen und gesellschaftlich angepassten Großhirn zum Schweigen gebracht wird. Wenn das Kind ruft: »Aber der Kaiser hat doch gar nichts an!«, dann erschrecken zuerst die Erwachsenen und dann das Kind – es schämt sich. Und weil es so vornehm ist und niemanden, schon gar nicht seine Eltern, beschämen möchte – verdrängt es solche »gefährlichen« Wahrnehmungen, internalisiert sie – wendet sie nach innen – von wo sie dann als Symptome, im Sinne einer Selbst-Beschämung, wieder hervorkommen. Wie wäre es sonst zu erklären, dass sich Kinder, wenn sie Bauchschmerzen und Kopfschmerzen haben aufgrund des ihnen zugefügten Unrechts
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