Mein Koerper und ich - Freund oder Feind
jungen Leute ihre Freiräume nehmen und sie ausfüllen – wenn nicht von der Familie wohlwollend begleitet, dann eben heimlich, still und leise. Bis zum Abschluss der Schule oder Berufsausbildung ist noch ein Zwischen-Raum, der weitere Entscheidungen offenlässt. Wenn diese Entscheidungsspielräume vorzeitig geschlossen werden und sich der Jugendliche den rationalen Gründen seiner Geld-Geber unterwirft, dann kann es zu sehr heftigen Abwehrreaktionen des Körpers kommen – natürlich nur dann, wenn es sich um falsche Entscheidungen handelt, was aber oft keiner der Beteiligten weiß – außer natürlich der kluge Organismus, falls der sich die Urteilskraft seines Krokodilshirns bewahrt hat.
Eine sehr nette und freundliche Studentin, die sich das Salär für ihr Pharmaziestudium durch Putzen aufbesserte, wurde ein halbes Jahr vor ihrem Abschlussexamen so krank, dass sie weder lernen noch weiter putzen gehen konnte. Sie hatte dauernd Magen-Darm-Störungen, Rückenschmerzen, eine unabwendbare Müdigkeit, die sich auch gegen große Mengen an Kaffee durchsetzte, und daraus resultierende Anfälle tiefer Verzweiflung. Es war ihr klar, dass sie das Pharmazie-Studium hasste! Sie hatte es nur angefangen, weil ihre Mutter von ihr erwartete, sie würde einmal die heimische Apotheke übernehmen. Aber weder wollte Claudia in ihr Heimatdorf zurück –keinesfalls! – noch überhaupt Apothekerin werden – nach der Abschlussprüfung gedachte sie sofort mit einem anderen Studium zu beginnen, nämlich Geschichte und Germanistik – was ihre Mutter und sie selbst allerdings als »brotlose Kunst« ansahen, denn Lehrerin wollte sie auch nicht werden. Da wäre ein abgeschlossenes Pharmaziestudium doch eine gute Absicherung – denkt man sich so. Ich sagte zu ihr: »Wenn du dir selbst versprichst, und zwar so, dass es dein Körper hört und deine innere Seele dir glaubt, dass du niemals in diese Apotheke gehen wirst, dass du nach dem Examen machst, was du selbst willst, dann hör jetzt auf zu lernen, geh viel spazieren, und mach ein schlechtes Examen – oder fall durch. Dieses Risiko solltest du eingehen.« Ich glaube, sie schaute schon hin und wieder einmal in ihre Bücher, sie machte ein ganz gutes Examen, das sie ihrer Mutter als Geschenk auf den Tisch legte. Dann ging sie davon, studierte ein wenig, was sie wollte, und ist heute Chemikerin in einer großen Firma und, wie ich höre, recht zufrieden.
Es ist aber nicht nur der falsche Weg, der wehtut, auch die Art und Weise, wie man ihn zu gehen gelernt hat.
Eine junge Patientin hatte schon mehrmals den Ausbildungsgang gewechselt, zuerst Bankkauffrau abgebrochen, dann Reiseunternehmen abgebrochen, jetzt gerade Hotelfachschule – auch nicht gut, wieder abbrechen? Die Mutter, eine erfolgreiche Allgemeinärztin, war an dem Punkt, wo sie sagte: »Es ist mir völlig egal, was sie macht, sie soll nur mal was zu Ende machen.« Das Mädchen jedoch konnte gar nichts mehr machen, weil sie schubweise hohes Fieber und Lähmungen in beiden Beinen bekam. Bis alles sorgfältig medizinisch diagnostiziert und nichts dabei herausgekommen war, verging geraume Zeit. Die Störungen kamen und gingen wieder, blieben aber nie lang genug weg, dass sie etwas »Richtiges« anfangen und beenden konnte. Als ich sie sah, erzählte sie von ihrem jüngeren Bruder. Der tat sich in allem leicht, marschierte durch die Schule wie nix, machte gute Abschlüsse, musste sich überhaupt nicht anstrengen und machte deshalb auch sonst noch so allerlei mit seinem Leben. Sie nicht: Sie tat sich schwer, strengte sich an, war ordentlich, blieb zu Hause und erfüllte ihre Pflichten – gute Abschlüsse konnte sie allerdings nicht vorweisen, dazu hatte es bei ihr nie gereicht –wem? Ihr natürlich. Sie stand ordentlich unter Druck. Ihre Mutter auch. Als sie nach langem Hin und Her einen Rollstuhl bekommen sollte, befand sie sich gerade in einer Reha-Klinik und stellte fest, dass sie dort gehen konnte – ohne Krücken, ohne Hilfe, kein Fieber – immer von Montag bis Freitag, dann wurde sie nach Hause geholt, und die Probleme, besonders die unbrauchbaren Beine, stellten sich wieder ein. Um herauszufinden, ob es sich um ein Wochenendphänomen handle – so etwas gibt es gar nicht –, blieb sie erst zwei und dann drei Wochen in der Klinik. Dort hatte der Neurologe schon aufgehört, sie zu behandeln. Der Mutter wurde mittlerweile klar, dass sie dieses inzwischen 24-jährige Kind allein und ohne Aufsicht laufen lassen sollte,
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