Mein Leben
Englands von US-amerikanischen und kanadischen Truppen überschwemmt, und irgendwann hatte die damals fünfzehnjährige Pat eine kurze Affäre mit Edward Fryer, einem in der Nähe stationierten kanadischen Flieger. Die beiden hatten sich bei einer Tanzveranstaltung kennengelernt, er war der Klavierspieler der Band. Wie sich herausstellte, war er verheiratet, sodass Patricia alleine zurechtkommen musste, als sie ihre Schwangerschaft feststellte. Rose und Jack schützten sie, und so kam ich am 30. März 1945 im Schlafzimmer im ersten Stock ihres Hauses zur Welt. Sobald es machbar war, also in meinem zweiten Lebensjahr, verließ Pat Ripley, und meine Großeltern zogen mich als ihr eigenes Kind groß. Ich bekam den Namen Eric, aber alle riefen mich Ric.
Rose war eine zierliche Frau mit dunklen Haaren, feinen Zügen und einer charakteristischen spitzen Nase, der »Mitchell-Nase«, wie sie in der Verwandtschaft bezeichnet wurde und die sie von ihrem Vater Jack Mitchell geerbt hatte. Alte Fotos von ihr zeigen eine sehr hübsche Frau, unbedingt die Schönheit unter den Schwestern. Aber nach dem Ausbruch des Krieges kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag musste sie sich einer Operation am Gaumen unterziehen. Während der Operation gab es einen Stromausfall, der dazu führte, dass der OP geräumt werden musste. Dadurch blieb eine lange Narbe unterhalb ihres linken Wangenknochens zurück, die aussah, als wäre ein Stück ihrer Wange ausgehöhlt worden, was sie ihr weiteres Leben lang ein wenig unsicher und verlegen machte. In seinem Song »Not Dark Yet« singt Dylan: »Behind every beautiful face there’s been some kind of pain.« Durch ihr eigenes Leiden sensibilisiert war sie ein ungeheuer warmherziger Mensch, der sich die Probleme anderer sehr zu Herzen nahm. Den größten Teil meiner Kindheit und Jugend war sie der Mittelpunkt meines Lebens.
Jack, ihr zweiter Mann und ihre große Liebe, war vier Jahre jünger als Rose. Er war ein schüchterner, gut aussehender Mann, über 1,80 Meter groß mit markanten Gesichtszügen und einer guten Figur. Er hatte ein bisschen was von Lee Marvin und rauchte selbst gedrehte Zigaretten aus einem kräftigen, schwarzen Tabak namens Black Beauty. Er war autoritär wie die meisten Väter in jener Zeit, aber auf seine Art auch sehr gütig und liebevoll mir gegenüber, vor allem in meinen ersten Jahren. Wir hatten keine besonders zärtliche oder sonst irgendwie körperliche Beziehung, so wie es allen Männern in unserer Familie schwerfiel, menschliche Wärme und Zuneigung auszudrücken. Vielleicht galt es als Zeichen von Schwäche. Jack verdiente seinen Lebensunterhalt als Stuckateurmeister für lokale Bauunternehmer. Darüber hinaus war er auch noch Maurer- und Schreinermeister, sodass er allein ein ganzes Haus hätte bauen können.
Er war ein überaus gewissenhafter Mann mit einem ausgeprägten Arbeitsethos und brachte so ein stetes Einkommen nach Hause, das während meiner ganzen Kindheit und Jugend stabil blieb. Deshalb herrschte bei uns, auch wenn man uns als arm hätte ansehen können, nur ganz selten akuter Geldmangel. Wenn es irgendwann doch einmal eng wurde, arbeitete Rose als Putzfrau oder Teilzeit bei Stansfield’s, einer Abfüllfabrik am Rande des Dorfes, die kohlensäurehaltige Getränke wie Limonade, Orangeade und Vanillebrause produzierte. Als ich älter war, habe ich in den Ferien selbst öfter dort gearbeitet, um mir ein Taschengeld zu verdienen, Etiketten auf die Flaschen geklebt und bei der Auslieferung geholfen. Die Fabrik glich einem Armenhaus aus einem Dickens-Roman mit herumlaufenden Ratten und einem bissigen Bullterrier, der eingesperrt blieb, damit er die Besucher nicht attackierte.
Ripley, das heute eher eine Vorstadt ist, lag zur Zeit meiner Geburt weit draußen auf dem Land. Es war eine typische kleine ländliche Gemeinde, die Mehrzahl der Bewohner arbeitete in der Landwirtschaft, und wenn man nicht aufpasste, was man sagte, wusste jeder über einen Bescheid. Deshalb war es ungemein wichtig, höflich zu sein. Zum Einkaufen fuhr man meistens in das mit dem Bus erreichbare Guildford, aber auch in Ripley gab es einige Läden: zwei Metzger, Conisbee’s und Russ’s, die beiden Bäckereien Weller’s und Collin’s, den Lebensmittelladen von Jack Richardson, Green’s, den Zeitungsladen, das Haushaltswarengeschäft von Noakes, eine Imbissbude und fünf Pubs. Meine erste lange Hose bekam ich bei »King und Olliers«, dem Herrenausstatter, der gleichzeitig als Postamt
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