Mein Leben, die Liebe, und der ganze Rest
unterhält sich. Ich winke ihm kurz zu, schiebe mein Rad in einen freien Ständer, schließe es ab und hieve meine Sporttasche vom Gepäckträger. Zusammen mit meinem normalen Schulrucksack habe ich ziemlich viel Gepäck für einen fünfstündigen Unterrichtstag, aber dann sehe ich, dass es den anderen genauso geht.
Die meisten von uns – die Hardcore-Partypeople , wie Lena unsere Clique inzwischen nennt – haben ihre Übernachtungssachen dabei. Unter Pauls Arm klemmen ein Schlafsack und eine Zeltrolle. An so was hab ich natürlich nicht gedacht. Aber wer denkt schon ans Schlafen, wenn’s darum geht, eine Nacht durchzumachen?
Phillip nimmt mich in die Arme. Ich lehne meinen Kopf gegen seine Brust, spüre seinen Herzschlag durch den dünnen Stoff seines T-Shirts und schließe kurz die Augen. Er riecht genauso gut wie der Morgen, stelle ich fest. Frisch und unglaublich lecker.
„Gut geschlafen?“, fragt er mich leise.
Bevor ich antworten kann, küsst er mich so zärtlich, dass ich alles um uns herum vergesse. Erst der Gong, der über unseren Köpfen ertönt und wenig dezent auf den nahen Schulbeginn hinweist, befördert mich wieder ins real life zurück. Schade, ich wäre lieber noch ein bisschen in meiner Traumwelt geblieben. Phillips Küsse sind einfach göttlich. Davon hätte ich gerne mehr.
Früher wäre es mir peinlich gewesen, mich vor den anderen mit Phillip zu küssen – noch dazu vor der Schule, wo die Gefahr besteht, dass jederzeit ein Lehrer aufkreuzt. Heute ist mir das komplett egal. Heute ist mir irgendwie alles egal, glaub ich. Sogar das Geschichtsreferat, an das Lena mich erinnert, als wir uns endlich entschließen, die Schule doch noch zu betreten.
Wir sind spät dran, weshalb ich nicht sofort antworte, als sie mich fragt, ob wir das Referat nicht lieber sausenlassen wollen. Erst als wir auf unseren Plätzen sitzen, schüttele ich den Kopf.
„Nee, komm“, sage ich zu ihr. „Lass uns das durchziehen und uns in den Pausen irgendwas zusammensuchen. Dann haben wir wenigstens eine geringe Chance auf eine Drei oder Vier. Wenn wir gar nichts machen, kriegen wir Ärger.“
„Okay“, nickt Lena schließlich. „Du hast Recht.“
Zufrieden klappe ich mein Englischbuch auf. Geht doch!
Kann ein überirdisch herrlicher Maimorgen tatsächlich einen unglaublich dramatischen (um nicht zu sagen katastrophalen) Verlauf nehmen?
Ja, er kann. Das stelle ich im Laufe des Vormittags fest.
Das Doreensche ist krank. Das allein ist noch nicht schlimm; jedenfalls nicht für uns, ihre Schüler. Schlimm ist, dass sie dem Vertretungslehrer (ein humorloser, grauhaariger Typ in beigefarbener Strickjacke und Cordhose, den ich bisher nur vom Sehen kannte) aufgetragen hat, uns eine umfangreiche Grammatikwiederholung schreiben zu lassen. Ist so was überhaupt erlaubt? In der Pause danach sind Lena und ich viel zu groggy, um uns irgendwelche Gedanken über die Weimarer Republik und die Novemberrevolution (wieso heißt die überhaupt Novemberrevolution? Fand die im November statt?) zu machen. Lieber treffen wir uns mit den anderen in der Cafeteria, schlürfen eimerweise Kakao und teilen uns Pizzabrötchen und Nussecken.
„Lass uns einfach hier sitzen bleiben und Horsti vergessen“, schlägt Lena vor und rülpst laut, als Anna mir von hinten auf die Schulter klopft.
Ich drehe mich um. Du liebe Güte! Anna sieht heute gar nicht gut aus! Ich frage mich, wie sie ihre verheulten Albinoäuglein bis heute Abend strahlend bekommen will. Von der fleckigen Haut und den strähnigen Haaren mal ganz zu schweigen. Kann es sein, dass sie sich ein bisschen gehenlässt?
„Ich wollte dir nur sagen, dass ich heute Abend nicht komme“, nuschelt sie.
Wie bitte? Die Alarmglocke in meinem Kopf läutet schrill. Ich starre Anna an.
„Wie, du kommst nicht?“, stoße ich hervor.
Sie zuckt die Achseln.
„Geht’s dir nicht gut?“, mischt Lena sich ein. „Du siehst echt ziemlich scheiße aus!“
„Danke!“, faucht Anna und dreht sich um.
Bevor ich sie aufhalten kann, ist sie verschwunden.
„Mann, Lena … Musste das sein?“, blaffe ich genervt.
Lena rollt die Augen. „Sind wir heute ein bisschen gereizt?“
„Nein. Ja. Vielleicht.“
Die Jungs werden aufmerksam.
„Ist was?“, will Paul wissen. Auf seinem T-Shirt steht die Parole des Tages: IF SCHOOL’S OUT , LIFE BEGINS .
Obwohl er überhaupt nichts dafür kann, schnauze ich ihn an: „Anna kommt heute Abend nicht!“
„Na und?“ Mit einem Schulterzucken widmet
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