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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Deutschland Polen besiegt hatte, drehte er sich zu mir um und sagte: »Bald kriegen wir auch Schlesien zurück!« , dabei lächelte er so gemein, als hätte er etwas gegen Polen.
    Wie die meisten Ur-Berliner stammte Günther Grass eigentlich aus Görlitz und gab sich gern nach außen als Arschloch, war aber in seinem Inneren ein netter, hilfsbereiter, sentimentaler und etwas verklemmter Frührentner mit einer komplizierten Biographie und einem gebrochenen Herzen. Mit jedem Spiel, das wir zusammen ansahen, gewann ich neue Erkenntnisse über ihn und konnte mir auf diese Weise ein mehr oder weniger zusammenhängendes Bild machen. Denn manchmal kam er mir ziemlich unheimlich vor, wie er in seinem Garten wirtschaftete, immer allein und immer in einem frisch gebügelten langarmigen Hemd: blaue Streifen auf weißem Grund.
    Weil Günther Grass gleich nach dem Krieg in Görlitz, einer Stadt an der polnischen Grenze, geboren worden war, nannte er sich ironisch einen »Vertriebenen«. Er ging als Jugendlicher nach Berlin, machte eine Lehre im Bereich Maschinenbau, wohnte in Oberschöneweide und baute dort bis zur Wende Maschinen. Als die Deutschen gegen Argentinien spielten, rief er: »Ich habe dem Klinsmann schon immer gesagt, dass er sich nicht mit einem Tor Vorsprung zufriedengeben soll!«, und drohte dem Fernseher mit der Faust.
    Günther war Single, war aber einmal beinahe verheiratet gewesen. Vielleicht wäre er heute ein glücklicher Familienvater mit zehn Kindern, wäre nicht damals der Westen dazwischengekommen. Zwar fieberte Günther Grass mit der deutschen Nationalmannschaft mit, aber mit den Wessis war er noch lange nicht versöhnt. Der Westen hatte ihm nicht nur seine Heimat und seinen Job, sondern auch noch die Frau, die er liebte, geraubt. Diese hatte einen Elternteil, ihren Vater, im Westen – in Villingen-Schwenningen – und sich damals überlegt, mit Günther zusammen dorthin zu ziehen. Sie hatte dafür einen entsprechenden Antrag gestellt und auch die Ausreiseerlaubnis bekommen. Doch Günther kniff. Nicht, weil er ein DDR-Patriot gewesen wäre, er hatte einfach Angst vor Villingen-Schwenningen. Er sah dort für sich als ostdeutscher Maschinenbauer keine Zukunft. Er stellte die Frau vor die Entscheidung: er oder Villingen-Schwenningen. Nach einer schlaflosen Nacht voller seelischer Qual entschied sich seine Liebste für Villingen-Schwenningen. Und Günther blieb in Oberschöneweide sitzen – allein.
    Zur Zeit der Wende betätigte sich Günther als Politiker, das heißt, er ging zu den Versammlungen des Bürgerlichen Aufbruchs und ähnlicher Vereine. Er selbst sagte über sein damaliges politisches Engagement: »Ick saß damals mit Merkel auf einem Stuhl.« Als Politiker vertrat Günther die Ansicht, man müsse die Mauer nicht gleich öffnen und die DDR nicht sofort an die CDU verkaufen, sondern langsam, Stück für Stück, um beide Seiten einander anzugleichen, als Prozess der gegenseitigen Durchdringung, der auf circa fünfhundert Jahre angelegt war. Es war ein kluger Plan, der vielen Ostdeutschen viele Unannehmlichkeiten erspart hätte. Leider fand Günther dafür nicht die notwendige Mehrheit. Während er noch diskutierte, haute die Mehrheit schon über den Zaun ab. Die Hastigen konnten auf dieser Strömung mitschwimmen, die Nachdenklichen gingen unter. Merkel wurde Ministerin, später Bundeskanzlerin, Günther wurde Frührentner und Kleingärtner. Merkel saß nun fröhlich in der WM-VIP-Loge und schaute aus nächster Entfernung zu, wie die Deutschen den Argentiniern einen Elfmeter nach dem anderen reindonnerten. Günther saß im Vereinslokal und ärgerte sich über alle Maßen, wenn Merkel auf der Tribüne zu sehen war. Einmal, erzählte er, gleich nach ihrer Wahl zur Kanzlerin, sei ihm der Kragen geplatzt – er schrieb ihr einen Brief mit einer bitterbösen, aber präzisen Analyse ihrer Politik, die nur von Hast und Eigennutz getrieben sei und über die Leichen anderer Politiker führe. Sie schrieb ihm nicht zurück. Irgendwann nach der Wende, Mitte der Neunzigerjahre, unternahm Günther eine Reise. Er fuhr nach Villingen-Schwenningen, wo der Ehemann seiner früheren Geliebten ihm prompt hundert Mark in die Hand drücken wollte. Seitdem ist er nur noch mit seinen Bäumen befreundet. Sie werden ihm allein schon aus natürlichen Gründen niemals abhandenkommen.
    Nach dem Sieg im Viertelfinale führten wir beide ein einfühlsames Gespräch über das Leben an sich. Nach dem sechsten Bier wurde Günther

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