Mein Leben im Schrebergarten
zunehmend poetischer. So sagte er zum Beispiel, er fühle sich »wie Moby Dick«, wobei er wohl nicht die viele Flüssigkeit meinte, die er geschluckt hatte, sondern die Einsamkeit des großen Walfisches. Unser Austausch endete abrupt, nachdem die Italiener die Deutschen aus der WM gekickt hatten. Günther gab daraufhin keinen Ton mehr von sich und schaute so grimmig, als wäre ich an dieser Niederlage schuld gewesen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich mich als Einziger in dem Vereinslokal über die Niederlage gefreut hatte. Jetzt hielt er mich für einen Feind Deutschlands. Aber ich war einfach des Patriotismus müde geworden.
Am Anfang hatte mir diese WM großen Spaß gemacht. Die geographischen Kenntnisse der Bevölkerung wuchsen ins Ungeheuerliche. Sogar meine Kinder kannten alle teilnehmenden Länder, konnten schon von Weitem eine japanische von einer südkoreanischen Flagge unterscheiden, wussten, wo Trinidad Tobago liegt und warum die Elfenbeinküste neuerdings auf Deutsch Côte d’Ivoire heißt. Sie kannten sogar den koreanischen Torwart mit vollem Namen dank ihrer Beschäftigung mit den italienischen Panini-Heften, in die sie Bilder von Fußballern mit sämtlichen Daten einklebten – Größe, Gewicht, Alter und so weiter. Die Bilder musste ich ihnen jeden Tag im Zeitungsladen kaufen, und wenn sie jemanden doppelt hatten, wurde in der Schule getauscht. Ich fand das Kaufen, Tauschen und Aufkleben von Jungs mit Körpermaßen in spezielle Alben zunächst leicht debil, war aber schnell mit Begeisterung dabei. Nicole hatte bald die ganze brasilianische Mannschaft zusammen, Sebastian fünf Klinsmanns, und alle Klassenkameraden von ihnen hatten Ruud van Nistelrooy doppelt.
Manchmal schien mir, diese WM würde womöglich nicht bloß einen Monat, sondern ein ganzes Jahr dauern. Es gab doch mehr als genug Länder auf der Welt, die Fußball spielen könnten, aber noch nie Weltmeister waren: Afghanistan, Taiwan, Vietnam … Selbst wenn sie noch nicht Fußball spielen konnten, wäre das nicht schlimm. Die Holländer, Engländer und Brasilianer konnten es auch nicht immer, aber man mochte sie irgendwie trotzdem. Das ganze Jahr über würden Fernsehgeräte mal im Schnee und mal im Regen stehen, Stromkabel würden auf dem Pflaster kleben, Fahnen an Autos flattern, im Radio würde jeden Tag die Nationalhymne irgendeines Landes ertönen, und alle drei Monate wäre Deutschland Weltmeister. Spätestens nach einem Jahr hätten allerdings alle eine Klatsche. Deswegen verspürte ich große Erleichterung, als Deutschland gegen Italien verlor.
Zu diesem Zeitpunkt war das »Fußballfest« im Großen und Ganzen bereits vorbei. Man wusste schon, dass beim Finale in Berlin nicht Ghana gegen die Ukraine oder Brasilien gegen Argentinien spielen würde. Deswegen reisten viele Gäste in der Hauptstadt ab. Man sah kaum noch Touristen auf der Straße und keine Schlangen mehr vor den Fahrkartenautomaten der BVG. Die Berliner waren wieder fast unter sich, denn wer würde schon die Franzosen im Ernst als Fremde bezeichnen wollen? Von Portugiesen und Italienern ganz zu schweigen. In Prenzlauer Berg ist Französisch bei vielen überhaupt die zweite Muttersprache. Zumindest in meinem Haus erziehen zwei von vier Stockwerken ihre Kinder auf Französisch. Die Portugiesen bauten jahrelang eine neue Sparkassenfiliale bei uns um die Ecke und danach noch eine Grundschule nebenan. Sie bauten sie so lange, dass wir einige portugiesische Bauarbeiterlieder inzwischen auswendig kennen und Begriffe wie »hoch«, »runter« und »verdammt, mach die Augen auf« nur noch auf Portugiesisch sagen. Und ohne unsere Italiener wären wir schon längst verhungert, denn niemand außer ihnen und meiner Schwiegermutter kann in Prenzlauer Berg anständig kochen. Meine Schwiegermutter kommt nur zweimal im Jahr zu Besuch, die Italiener aber sind immer da.
Diese ganzen einheimischen Ausländer benahmen sich ziemlich ruhig, als ihre Mannschaft es bis ins Halbfinale schaffte. Nur die Deutschen drehten durch – ganz allein. Sie brauchten aber auch keine Begleitung auf ihrer Patriotismusstrecke, sie haben sich als ungeheuer dehnbar erwiesen und konnten die Fan-Meile in jeder Länge mit sich alleine füllen. Je weniger Gäste sich in Berlin aufhielten, desto größer wurde diese Fan-Meile, und immer mehr Straßen in Tiergarten wurden ihretwegen gesperrt. Dort feierten die Einheimischen sich selbst bis zur völligen Erschöpfung, beziehungsweise bis die Italiener sie endlich
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