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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Familienangelegenheiten zu klären. Wir aber wollten in diesem Sommer unseren Kindern endlich Russland zeigen. Eigentlich ist meine geliebte Heimat kein Reiseziel für Minderjährige. Dort werden weder Kaugummis produziert, noch laufen kinderfreundliche Mickymäuse durch die Gegend. Wenn Amerika ein ideales Land für verheiratete, gut versicherte Nichtraucher und Jogger um fünfundvierzig ist, bleibt Russland sein Gegenteil: ein begehrtes Reiseziel für ungebundene romantische Nichtjogger über fünfundvierzig, die auf Abenteuersuche sind. Würde man für Länder eine Altersbegrenzung wie für Kinofilme einführen, so läge Russland irgendwo in der Mitte: zugelassen ab zwölf in Begleitung eines Erziehungsberechtigten.
    Unsere Kinder waren erst sieben und neun und beide in Berlin auf die Welt gekommen, dafür hatten sie jedoch russische Eltern. Im Hof, in der Schule, vor ihren Freunden und Nachbarn, bei jeder Gelegenheit prahlten sie damit, russische Kinder zu sein, ohne Russland auch nur einmal mit eigenen Augen gesehen zu haben. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Unsere Kinder brauchten Insiderwissen, Eindrücke aus erster Hand. Außerdem dachte ich, sie würden uns Eltern besser verstehen, wenn sie sähen, wo wir hergekommen sind. Wir haben lange überlegt, welchen Teil Russlands wir den Kindern als Erstes vorstellen sollten. Moskau eroberte gerade den Status »teuerste Stadt der Welt« und kam von daher nicht infrage. Man musste ein Scheich sein oder mindestens ein Großkapitalist, um Moskau genießen zu können. Meine letzte Reise vor zwei Jahren hatte mir bereits die letzten Illusionen bezüglich meiner Heimatstadt geraubt. Die Kluft zwischen Arm und Reich war dort unüberbrückbar, der Hass auf beiden Seiten umso spürbarer geworden.
    In St. Petersburg, der Lieblingsstadt meiner Frau, fand gerade ein G8-Treffen statt, und fünfzigtausend zusätzliche Sicherheitskräfte blockierten die Straßen. Unsere Freunde erzählten uns, dass alle fünfzehn Meter als Fischer verkleidete Agenten der nationalen Sicherheit mit Zielfernrohren an ihren Angeln am Ufer der Newa stehen würden. Unser St. Petersburger Freund Alexander, der als Straßenfeger arbeitete und tatsächlich oft an der Newa angeln ging, fragte die Agenten, ob es nun verboten sei, während des G8-Treffens zu fischen. Erlaubt sei es schon, erwiderten die Agenten, sie rieten ihm jedoch zu seiner eigenen Sicherheit, nicht länger als fünf Minuten mit der Angel an einer Stelle stehen zu bleiben. Die ganze Stadt spielte verrückt. Globalisierungsgegner aus aller Welt hatten die Hotelpreise so in die Höhe getrieben, dass selbst in einer Jugendherberge kein Bett unter hundertfünfzig Dollar mehr zu haben war. Man rechnete in St. Petersburg mit einem heißen Sommer. Man erwartete Demonstrationen, gemeinsame Pressekonferenzen, heiße politische Debatten und kühl geplante Attentate, mit denen Millionen Menschen jeder Hautfarbe und jeder Glaubensrichtung ihre Hoffnungen auf eine bessere Welt verbanden. Mit einem Wort: Man rechnete dort mit allem, außer mit uns.
    In den anderen russischen Großstädten hatten wir weder Freunde noch Verwandte, abgesehen von Odessa, wo mein schwuler Onkel mit seinem Freund, einem arbeitslosen Opernsänger, in einer Ein-Zimmer-Wohnung zusammenlebte. Diese schrille Verwandtschaft war ganz amüsant, aber irgendwie doch nichts für kleine Kinder, außerdem zählte Odessa nicht mehr zu Russland.
    Übrig blieb eine volkstümliche Erkundungsreise zu meiner Schwiegermutter, die auf der nördlichen Seite der gewaltigen kaukasischen Gebirgskette in einem großen Schrebergarten wohnt. Sie hat ein Steinhaus und Tomatenbeete, Pflaumen und Aprikosenbäume, einen Teich mit Fischen, eine russische Sauna und einen Schießstand im Garten. Wir hätten bei ihr eigentlich jedes Jahr unseren Urlaub verbringen können, taten es aber bisher nicht. Nur vor zehn Jahren sind wir einmal zu meiner Schwiegermutter in den Kaukasus gefahren, danach nie mehr. Der Grund dafür war meine damalige Arroganz gegenüber dem dörflichen Leben, meine völlig übertriebene Angst vor kaukasischen Blutsaugern und tschetschenischen Terroristen sowie meine niederträchtige Kniefälligkeit vor der Großstadt. Nur in den Metropolen kommt das Kulturelle eines Landes zum Ausdruck, so dachte ich. Neue Filme, Theaterinszenierungen, das Konzert der Lieblingsband, gute Restaurants und anregende Gespräche – das waren für mich die Verlockungen einer Großstadt, nicht eines Dorfes.

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