Mein Leben im Schrebergarten
unsere Freunde an, auch meine Eltern kamen, um uns zu helfen, und die Kinder bekamen ebenfalls kleine Körbchen in die Hand gedrückt, die sie mit Beeren füllen sollten. Unseren anfänglichen Traum vom »Grillen im Schatten der Bäume« mussten wir komplett bis auf das Ende der Ernte verschieben, aber dieses Ende war nicht abzusehen. Nicht einmal unsere Gartenmöbel kamen so recht zum Einsatz, da wir rund um die Uhr arbeiteten. Tagsüber sammelten wir die Beeren, abends verarbeitete meine Frau die Beute zu Johannisbeerkonfitüre, die wir angeblich »für die langen Winterabende« brauchten, wie Olga mir erklärte. Ich fühlte mich etwas bedroht von dieser Konfitüre. Ich hatte bis jetzt, wenn überhaupt, nur ab und zu Orangenkonfitüre gegessen.
Die großen und kleinen Gläser mit hausgemachter Johannisbeerkonfitüre beanspruchten immer mehr Platz in der Küche. Der Küchenschrank war schnell voll, bald fand ich die Gefäße in meinem Arbeitszimmer unter dem Tisch, im Bücherregal und auf dem Balkon. Die ganze Wohnung versank langsam, aber unaufhaltsam in Johannisbeerkonfitüre – wie die Titanic im Nordatlantik.
»Das ist nur für kurze Zeit, bis ich den richtigen Platz für unsere Vorräte gefunden habe«, meinte meine Frau, als ich ihr meine Angst vor dem Konfitüreberg offenbarte.
Auf jeden Fall besaßen wir mit unseren Vorräten ungefähr einen Liter Johannisbeerkonfitüre pro Winternacht. In Anbetracht dieser Masse bereitete ich mich auf extra lange Winternächte vor. Dabei war die Johannisbeere nur eine Ouvertüre. Auf uns warteten noch Kirschen, Pflaumen und Äpfel, die mir bereits laufend auf den Kopf fielen. Ich hoffte, ein solcher Apfelaufprall würde mich auf eine Idee bringen, wie wir diese ganzen Früchte bewältigen könnten.
Die Natur schien im Juli völlig aus dem Häuschen zu geraten, wahrscheinlich wegen der Hitze. Alles blühte. Jedes noch so bescheidene Gewächs, das wir für Unkraut gehalten hatten, brachte auf einmal exotische Blumen von noch nie gesehener Schönheit hervor. Als Letztes blühten sogar die Brennnesseln oder das, was ich für Brennnesseln hielt. Im ewigen Schatten hinter unserer Laube gingen diese Pflanzen in gelben und roten Blumen auf. Vor dem schwarz verwitterten Hintergrund der Laube sah dieses vom Gärtnergott willkürlich angelegte Beet ein bisschen wie die deutsche Nationalflagge aus. Neben dieser leicht im Wind schwankenden Fahne war noch eine zweite Portion Rhabarber nachgewachsen, die Gott sei Dank auch hierzulande als nicht essbar galt. Meine Nachbarn wiesen mich mehrmals darauf hin, dass ich unter keinen Umständen den leckeren zweiten Rhabarber essen dürfe. Giftig sollte er sein und ungesund. Ich aß den zweiten Rhabarber trotzdem, ohne Rücksicht auf diese Warnungen, einfach so aus Neugier, und möchte Ihnen hiermit mitteilen: Der zweite Rhabarber schmeckt genauso wie der erste. Null Unterschied, nix, nada.
Wie soll man uns Menschen verstehen? Ein Leben lang erschaffen wir uns immer neue Illusionen, nur um sie später zugunsten anderer Illusionen als falsch zu entlarven und beiseitezutun. Und Gärtner sind mit Abstand die komischsten Vögel unter den Menschen. Mal gießen sie ihre Pflanzen trotz Hitze nicht, nur weil im Internet unter www.wetter.de Regen angekündigt wurde. Und manchmal bewässern sie ihre Gartenanlagen unter einer Regenwolke stehend, weil der Wetterfrosch von der Tagesschau »sonnig und trocken« versprochen hatte. Sie finden den ersten Rhabarber lecker, und den zweiten verschmähen sie. Sie gucken Fußball bis zum Umfallen, hissen deutsche Fahnen in ihren Vorgärten und sehen in ihren Jogger-Klamotten trotzdem total unsportlich aus.
Die Johannisbeerernte wurde von der Fußballweltmeisterschaft überschattet, die dieses Jahr ausgerechnet in Deutschland stattfand und deswegen die Menschen hier besonders elektrisierte. Mit jedem Spiel wurde die Kneipe im Vereinslokal voller. Besonders wenn Deutschland spielte, musste man mindestens eine halbe Stunde früher kommen, um überhaupt noch einen freien Platz zu ergattern. Ich bat meinen Laubennachbarn Günther Grass, einen Stuhl für mich zu reservieren. Er sagte nicht Nein. Fußball verbindet, und so nutzte ich die Gelegenheit, um meinen spöttischen Nachbarn besser kennenzulernen.
Für die Zeit der WM, vom ersten deutschen Sieg bis zum Ausscheiden im Halbfinale, vernachlässigte Günther seine drei Nadelbäume gänzlich, er klebte nur noch im Vereinslokal vor der Glotze. Nachdem
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