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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Viele Jahre mussten vergehen, viele Konzerte und Theateraufführungen besucht und viele anregende Gespräche geführt werden, um zu erkennen, dass die zeitgenössischen Metropolen mit ihren vorgetäuschten Leistungen, ihrem Flitter und Glitter für ein G8-Treffen perfekt sein mögen, als Hort der Schönheit und des Geistes aber nicht taugen. Jetzt, nachdem wir die Liebe zum Leben in der Natur entdeckt hatten, stand unser Entschluss fest: Wir wollten Urlaub im kaukasischen Garten meiner Schwiegermutter machen. Was die übrige Unterhaltung betraf: Meine Schwiegermutter kann kochen und singen – was will man mehr?
    In der Regel besuchte sie uns im Winter, wenn sie im eigenen Garten nichts mehr zu tun hatte. Nur vor ein paar Jahren machte sie einmal eine Ausnahme und kam im Sommer nach Berlin. Sie brachte Wein und hausgemachte Konfitüre mit. Der Wein aus dem Nordkaukasus ist ein besonderes Getränk – durchsichtig wie Wasser und stark wie Wodka. Eigentlich ist er eher Wodka als Wein. Man bekommt von ihm schnell weiche Knie, behält aber einen klaren Kopf.
    Wir sprachen über die allgemeine Situation im Nordkaukasus. Sie war wie immer kompliziert. Die südliche Seite der kaukasischen Gebirgskette ist der Welt besser bekannt als die nördliche. Auf der Südseite leben Georgier, Abchasen und Aserbaidschaner. Auf der nördlichen Seite leben weitere fünfundachtzig Nationen, bei denen Dolche und kleine Handfeuerwaffen traditioneller Bestandteil der nationalen Tracht sind. An der nördlichen Seite der kaukasischen Gebirgskette leben in friedlicher Koexistenz Dagestaner, Cherkessen, Balkaren, Osetinen, Inguschen, Tschetschenen und die Bewohner der autonomen Republik Adigei mit der Hauptstadt Maikop. Meine Schwiegermutter wurde in Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens, geboren. Damals lebten dort mehr Russen als Tschetschenen, und Letztere teilten sich obendrein in Flachlandtschetschenen und Bergtschetschenen, wobei die Bergbewohner als temperamentvoll, die Flachländler eher als verhalten galten. Sie wurden erst aggressiv, wenn sie auf die Bergbewohner trafen. An diesem Beispiel sieht man, wie kompliziert das kaukasische Leben ist. Dort kennt jeder den hohen Preis des Friedens, der umso wertvoller wird, je zerbrechlicher er ist. Die Menschen dort zünden schnell etwas an, sie singen und tanzen gern. Meine Schwiegermutter hat eine gute Stimme, aus ihr hätte eine tolle Sängerin werden können, aber in Grosny gab es dafür keine Ausbildungsstätten, nur ein Öl- und Gas-Institut. Deswegen ist sie auch Geologin geworden.
    Vor zehn Jahren war ich zum ersten Mal selbst in den Nordkaukasus geflogen. Es war ein offizieller Besuch mit dem Zweck, mich der Familie meiner Frau vorzustellen. Die Bekanntschaft mit meinen zahlreichen Onkeln und Tanten blieb meiner Frau dagegen erspart. Fast alle meine Verwandten sind aus der Sowjetunion ausgewandert, als ich noch in Moskau in den Kindergarten ging. Auf der Suche nach einem besseren Leben verließen sie nacheinander ihre Heimatorte, ohne meinen Eltern auf Wiedersehen zu sagen, und fuhren nach Australien, Amerika, Kanada oder Israel. Die meisten habe ich selbst nie kennengelernt, und ihre Auswanderergeschichten bekam ich erst viel später zu hören.
    Die Verwandten meiner Frau dagegen sind alle dort geblieben, wo sie geboren wurden – im Nordkaukasus. Selbst als sie aus Grosny fliehen mussten, sind sie nicht weit gefahren. Sie ließen sich in einem Tal zwischen den fünf wichtigsten Bergen der Region nieder. Diese allein stehenden Berge, auch Lakkolithen genannt, sind eine Seltenheit. Man sagt, sie könnten unter Umständen Radioaktivität ausstrahlen. Das Tal meiner Schwiegermutter ist von vier solchen Bergen umgeben. Sie heißen Smeika (Schlangenberg), Raswalka (Kaputter Berg), Schelesnaja (Eiserner Berg) und Beschtau (Beschtau). Früher gab es noch einen fünften – den Kinschalnaja (Dolchberg ). Dieser Berg, so munkelt man, hatte eine so starke magnetische Anziehungskraft, dass er sogar Flugzeuge anziehen und dadurch den Flugverkehr in der Region behindern konnte. Beinahe jede Woche knallte eine Maschine gegen den Dolchberg. Nachdem man ihn aber vor fünfzehn Jahren auseinandergenommen und aus den Steinen einen wunderschönen Park in Patigorsk gemacht hatte, gab es so gut wie keine Flugzeugabstürze mehr. Der Park ist sehr beliebt und zieht selbst an Werktagen unglaublich viele Menschen an.
    Am Horizont hinter den fünf Bergen sind weitere Berge zu sehen, und beinahe jeder hier hat

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