Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
Vom Netzwerk:
seinen Lieblingsberg sowie eine mit diesem Berg verbundene Geschichte. Die ausländischen Bergsteiger mögen den Elbrus, weil er sehr hoch ist. Für die Einheimischen ist der Berg Maschuk wichtiger, weil sich an seinem Fuß der große russische Dichter Lermontow vor hundertfünfzig Jahren zu Tode duellierte. Im Alter von siebenundzwanzig Jahren von einer Kugel im Kaukasus zu sterben, das machte Lermontow zur absoluten Nummer zwei im Klub der toten russischen Dichter, zum großen Helden und Romantiker. Obwohl etliche seiner Freunde meinten, Lermontow wäre selbst schuld gewesen, er hätte die Ehre einer Dame beleidigt und sich auch sonst aus Langeweile und Liebeskummer sehr aggressiv verhalten. Jeder anständige Mensch hätte ihn auf der Stelle erschossen. Vielleicht war es also mehr ein versteckter Selbstmord. Auf jeden Fall ist der Ort dieses Duells an allen Ausfahrten ausgeschildert und mit einem Denkmal versehen.
    Wenn man von Lermontows Denkmal zehn Kilometer Richtung Norden fährt, trifft man exakt auf die Kosakensiedlung, in der meine Schwiegermutter wohnt. Die Siedlung ist relativ neu und erst seit zwölf Jahren von der Gebietsverwaltung als solche anerkannt. Die Postanschrift lautet »Stawropolsky-Bezirk, Mineralowodski-Bezirk, Dorf Borodinowka, Steppenpiste Haus 3«. Der Name der Straße wurde in unendlichen Diskussionen geboren, an denen alle Straßenbewohner teilnahmen. Es war nicht leicht, den richtigen Namen für die eigene Straße zu finden, noch dazu einen, der allen gefiel. Modern sollte der Name klingen, anspruchsvoll und optimistisch. Nach monatelangen Debatten und so verrückten Vorschlägen wie »Unter den Birken« oder »Kaukasusboulevard« einigten sich die Kosaken auf »Steppenpiste«. Anfangs lachte sogar der Briefträger über diesen sportlichen Titel. Inzwischen haben sich aber alle an ihn gewöhnt.
    Seit der Anerkennung der Adresse vor zwölf Jahren schrieb meine Frau Briefe an ihre Mutter. Der nordkaukasische Briefträger musste, um diese Briefe auszuhändigen, über den Schlangenberg laufen. Die Briefe kamen trotzdem stets überpünktlich an. Wahrscheinlich weil sich der Briefträger seiner Bedeutung als Weltnachrichtenübermittler bewusst war. Mit den Briefen aus Deutschland in der Tasche bildete er sich ein, an wichtigen Verhandlungen zwischen den beiden Ländern auf diese Weise mitzuwirken. In Wirklichkeit ging es in den Briefen hauptsächlich um Geschenke.
    Außer meiner Schwiegermutter wohnten in der Steppenpiste noch ihr Bruder Georgij Ivanowitsch mit seiner Frau und ihren zwei Töchtern Marina und Tatjana. Die jungen Cousinen meiner Frau machten sich wegen der fehlenden Heiratsmöglichkeiten große Sorgen. Ihrer Ansicht nach befanden sie sich gerade in einem höchst kritischen Alter: Tatjana war einundzwanzig, Marina ganze dreiundzwanzig Jahre alt. Und es mangelte nicht nur in der Steppenpiste, sondern auch in den umliegenden Dörfern an jungen Männern. Viele waren nach dem Armeedienst nicht hierher zurückgekehrt. Selbst in der nahe liegenden Stadt Patigorsk (Fünfberg) konnte man die Jungs, die für eine ernsthafte Beziehung in Frage kämen, an einer Hand abzählen. Die Cousinen gingen also einmal in der Woche auf Liebesjagd, wozu sie mit dem Zug zur Disko in die Stadt fuhren. Die Konkurrenz dort war allerdings sehr groß. Man musste sich schon tierisch viel einfallen lassen. Einmal lernten sie in der Diskothek zwei nette junge Polizisten kennen, die gute Manieren und sogar einen Dienstwagen hatten. Die Jungpolizisten brachten die Mädchen abends nach Hause zurück und wollten kurz auf ein Glas Schnaps mit ins Haus kommen. Aber in dem Augenblick, als sie ausstiegen, trat Georgij Ivanowitsch mit seinem Gewehr aus der Tür und verjagte die Kavaliere – für immer.
    Die Cousinen beschwerten sich deswegen in ihren Briefen an uns über die Herzlosigkeit ihres Vaters, der »null Verständnis« für ihre Nöte und Sorgen und »keinen Schimmer« von den modernen Sitten hatte. Wiederholt baten sie uns um Hilfe: »Schickt uns bitte ausgefallene Klamotten, Röcke und Blusen, modische Stiefel und Hosen in verschiedenen Farben, nur bitte nicht so einen Quark wie Dolce&Gabbana oder Calvin Klein.« Das war eine sehr seltsame Bitte. Vor zehn Jahren gab es noch einen Direktflug von Berlin nach Mineralnie Vodi, der inzwischen jedoch mangels Passagieren gestrichen wurde. Bevor wir uns die Tickets für den fünfstündigen Flug kauften, fragten wir noch den Rest der Familie, was sie für Geschenke

Weitere Kostenlose Bücher