Mein Leben im Schrebergarten
ihre gedopten Profisportler in die Sowjetunion zu schicken.
Obwohl Kanada, Israel und die DDR trotzdem versprachen, dabei zu sein, verdarb der amerikanische Boykott dem Gastgeber kräftig die Laune. Er stoppte die meisten großen Bauvorhaben, und auch das Stadion neben unserem Haus wurde nie fertiggestellt. Die Natur und die Nachbarn nahmen die weiteren Bauarbeiten in die Hand. Ganze Berge von Baumaterial verschwanden im Nichts, und die Baugrube verwandelte sich erst einmal in einen Erlebnispark. Die Kinder spielten dort Indianer und Cowboy, später füllte sich die Baugrube mit Wasser und verwandelte sich in eine riesige Pfütze. Innerhalb eines Jahres entwickelten sich darin bereits eine vielfältige Wasserflora und -fauna, und es kamen die ersten Frösche, wahrscheinlich zu Fuß, aus einem nahe gelegenen Sumpf. Sie beschallten das Fundament mit Nachtmusik. Dazu pfiffen die über dem Wasser kreisenden Schwalben. Bald wurde am Ufer der Baugrube der erste Angler gesichtet. Das Gerücht, dass es im Fundament große Fische gäbe, machte schnell die Runde. Die Angler kamen sogar nachts zum Olympiasee, wie die Baugrube prompt hieß, und bald wimmelte es rundum von ihren Autos. Tatsächlich gab es eine Zeit lang Plötzen, Brassen und sogar Karpfen in der Grube. Niemand konnte glaubwürdig erklären, wie die Fische dorthin gekommen waren. Die einen sagten, die Vögel, vermutlich Möwen, hätten sie dorthin gebracht – als Laich buchstäblich ausgeschissen. Aber Moskau ist keine Hafenstadt, es gibt dort so gut wie keine Möwen, nur Spatzen und Tauben.
Wie sollte man sich so etwas überhaupt vorstellen? Da schwebt ein Spatz mit einer Brasse im Schnabel über dem Fundament, trifft unterwegs einen anderen Spatzen, ebenfalls mit einer Brasse, die Vögel sagen zueinander »Na?« – und lassen ihre Fische ins Wasser fallen? Eine andere Erklärung lautete, die Katzen hätten die Fische in die Baugrube gebracht. Nur wo hätten die Katzen die Fische hernehmen sollen? Aus dem Aquarium ihrer Besitzer oder aus einem Fischgeschäft? Einige behaupteten, die Fische seien unterirdisch in die Baugrube gelangt, durch den stillgelegten und dann vollgelaufenen U-Bahn-Schacht einer geheimen U-Bahn-Linie, die angeblich direkt zum Stadion führen sollte, aber ebenfalls wegen des Boykotts der Olympischen Spiele nicht zu Ende gebaut worden war.
Ich hielt das alles für dumme Gerüchte. Wie sollten Fische in die U-Bahn kommen und wozu? Wo wollten sie hinfahren? Die Fische in der Baugrube waren ein typischer Hokuspokus der Natur, eine Laune. Vielleicht ihre Reaktion auf die ausgefallenen Spiele, vielleicht aber auch nicht. Nur die Natur selbst konnte die richtige Antwort geben, aber sie schwieg.
Nachdem die Baugrube mehr oder weniger leer gefischt worden war, entwickelte sich der Platz zu einem beliebten Sommerstrand. Die Erwachsenen mussten nicht weit laufen, um ihrem Nachwuchs das Schwimmen beizubringen. Sie taten es in der Regel auf die in der Sowjetunion traditionelle spartanische Art: Sie warfen ihre Kinder ins Wasser und sahen zu, wie sie von ganz alleine die modernen Schwimmtechniken erlernten. Manchmal gaben Eltern und Verwandte vom Beckenrand aus auch Ratschläge. So sollen es angeblich auch die unerschütterlichen Spartaner getan haben, um ihrem Nachwuchs das kleine ABC des Überlebens beizubringen. Das Merkwürdige daran war, dass diese kommunistische, menschenfeindliche Methode tatsächlich funktionierte, wenn auch nicht bei jedem Kind. Die Erfolgsquote lag ungefähr bei fünfzig Prozent. Auf jedes Kind, das wieder an der Oberfläche der Baugrube auftauchte, kam eins, das wie ein Stein unterging. Ich glaube, bei den Spartanern war die Quote auch nicht besser, nur haben sie ihre Misserfolge aus Propagandagründen verschwiegen.
Wenn ein Moskauer Kind sich unspartanisch benahm und nur noch Luftblasen von ihm zu sehen waren, entwickelten seine Eltern auf der Stelle erstaunliche Schwimm- und Tauchqualitäten: Sie sprangen ins Wasser, zogen den Nichtschwimmer an den Haaren ans Ufer, beatmeten ihn von Mund zu Mund und ergriffen gewissenhaft alle Maßnahmen, die zur Rettung von Ertrunkenen vorgesehen sind. Wenn das Kind zu sich kam, warfen sie es erneut ins Wasser. Die gemäßigteren liberalen Eltern, die den westlichen Werten gegenüber offen waren, benutzten wie in allen zivilisierten Ländern Schwimmreifen oder Schwimmflossen, auch Schwimmengel genannt, um ihren Kindern die Angst vor dem Wasser zu nehmen. Trotz der allgemeinen
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