Mein Leben im Schrebergarten
was wird er schon über den Kaukasus erfahren? Er wird seine sechstausend Meter hochklettern (die man übrigens von der anderen Seite bis auf eine Höhe von viertausend Metern mit dem Auto und weiter mit einer Seilbahn hochfahren kann). Am Gipfel angekommen, wird er auf unrasierte Männer mit goldenen Zähnen und Frauen in Kopftüchern treffen, die ihm ihre Lammfelle andrehen wollen.
Wir dagegen hatten die womöglich geheimnisvollste Sehenswürdigkeit besucht, die sich im Nordkaukasus befindet. Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen schon mal was davon gehört hat. Ob ich es überhaupt erzählen darf? Doch, ich darf. Die Sehenswürdigkeit, die uns naturverliebte Großstädter am meisten faszinierte, war kein Garten, kein Park und kein Berg, sondern die so genannte »Höhle der ewigen Eiszeit«, die in der Bevölkerung auch als »Höhle des Eismenschen« bekannt ist. Angeblich soll in einem der Berge noch ein Gletscher aus der Eiszeit erhalten sein. Eine Höhle mit Wänden aus Eis – kilometertief im Berg, dunkel und kalt. Niemand hat es je geschafft, die Höhle bis zum Ende zu gehen. Laut einer Legende lebte ein kleines Volk in dem Berg, ein paar Fellmenschen aus alten Eiszeittagen, die sich der Sonne nicht stellen mochten. Tagsüber versteckten sie sich im Gletscher, nachts kamen sie heraus und sammelten im Wald, was die Touristen hinterlassen hatten. Eine genaue Wegbeschreibung für den Ort gab es nicht.
An einem Wochenende machten wir uns mit dem Opel von Onkel Georgij auf, um die Höhle zu suchen. Alle paar Minuten hielten wir an, um die einheimische Jugend nach der Höhle zu fragen. Sie zeigte stets in unterschiedliche Richtungen. Die alten Menschen wollten mit uns nicht reden.
»Entschuldigung!«, riefen wir aus dem Auto. »Wir suchen nach der Höhle des Eismenschen!«
»Wer tut das nicht!«, antworteten uns die Alten philosophisch.
Unser Mann vor Ort, der Bienenzüchter Juri, hatte erzählt, die Höhle befinde sich neben dem Restaurant »Die Hütte des Waldwärters«, aber auch die war schwer zu finden. Die Straße wurde immer enger. Wir mussten unser Auto stehen lassen und zu Fuß weitergehen. Im Wald roch es stark nach Rauch, Grillkohle und verbranntem Fleisch, also orientierten wir uns an dem Geruch und fanden schließlich das Restaurant mit einer großen Terrasse. Dort saßen bereits zwei jüngere Pärchen und eine Gruppe Radfahrer, die sich auch bei der Suche nach der Höhle des ewigen Eismenschen verlaufen hatte. Anscheinend lebte der Besitzer des Restaurants davon, dass sich Leute auf dem Weg zur Höhle verliefen und auf seiner Terrasse landeten. Ein schüchterner Kellner brachte uns den gewünschten Weißwein und Kutabi, eine Art armenische Pizza mit Lauch und Käse. Er bestätigte uns, dass sich die Höhle tatsächlich irgendwo in der Nähe des Restaurants befand. Wo genau konnte er allerdings nicht sagen. Obwohl er ziemlich verwildert aussah und stark behaart war, behauptete der Kellner, weder jemals in der Höhle gewesen zu sein noch irgendwelche Eiszeitmenschen gesehen zu haben.
Wir tranken alles aus und gingen los. Auf gut Glück suchten wir weiter. Dabei stießen wir regelmäßig auf andere Gruppen und Einzelpersonen, die ebenfalls nach der Höhle suchten. Es gab zwei Arten von Höhlensuchenden im Wald: diejenigen, die so taten, als wüssten sie genau, wie man dorthin kommt, und die anderen, die ihnen auf den Fersen blieben. Nach drei Stunden im Wald waren wir schon fast so weit, die berühmte Sehenswürdigkeit für eine Ente zu halten und die Suche abzubrechen. Plötzlich wehte eine eiskalte Brise durch den Wald. Bei Außentemperaturen von über dreißig Grad war es nicht schwierig, der Kälte zu folgen, und zwei Minuten später standen wir tatsächlich zusammen mit einem Dutzend anderer Leute vor dem Eingang der Höhle des ewigen Eiszeitmenschen. Sie war sehr groß, dunkel, und eine solche Kälte wehte uns daraus entgegen, dass einem zwei Meter vor dem Eingang schon die Zähne klapperten. Viele gingen hinein, kamen aber schnell wieder heraus an die frische Luft. Sie hatten die Höhle unterschätzt. Sie war mindestens zwei Kilometer tief, und man wurde darin selbst zu einem Eismenschen, ehe man weit genug kam, erzählten sie. Wir hatten daraufhin keine große Lust mehr, uns ohne warme Kleidung und Taschenlampe in die Höhle zu wagen. Dennoch versuchte ich, aus Neugierde und im Auftrag der Weltliteratur, dreimal bis zum Eiszeitmenschen zu laufen, musste aber jedes Mal auf halbem Wege wieder
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