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Mein Leben in 80 B

Mein Leben in 80 B

Titel: Mein Leben in 80 B Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Goerz
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von mir ausgegangen. Beim Küssen hatte ich an gar nichts gedacht, sondern fand es einfach nur schön. Vielleicht weil Oke mich wärmte, weil er mir mit meinem Vier-Promille-Kopf Halt gab oder weil mich der Kuss an meine Studentenzeit erinnerte und ich mich am Geburtstag meiner Freundin so alt gefühlt hatte.
    Danach waren wir Hand in Hand zu McDonald’s gelaufen und hatten uns dort gegenseitig mit Pommes gefüttert. An die Taxifahrt zu Okes Wohnung konnte ich mich nur noch verschwommen erinnern. Und an den Weg in seine Wohnung gar nicht mehr. Wahrscheinlich war ich im Auto eingeschlafen und hatte das dann in seinem Bett nahtlos fortgesetzt. Zum Glück. Denn heute, im grauen Licht dieses kalten Dezembertags, kam ich mir wegen des Kusses und der Nacht in Okes Bett vor wie die schlimmste Ehebrecherin.
    Und dann kam ich an dem kleinen Kino vorbei, in dem in wenigen Minuten ein neuer Film mit Julia Roberts laufen sollte. Das war mir gerade recht, denn ich hatte noch keine Lust auf Erklärungen bei Elissa und weitere Anrufe von meiner Familie.
    Ich brauchte Ablenkung. Aber der Film war doch nicht meditativ und drehte sich nicht in erster Linie um gutes Essen, wie ich gehofft hatte. Gleich zu Beginn ließ Julia Roberts sich von ihrem Mann scheiden und machte sich dann in Italien, Indien und auf Bali auf die Suche nach sich selbst. Was sie fand, war ein Mann, der sie über alles liebte. Bis es so weit war, durfte ich allerdings miterleben, welche Gedanken die Heldin sich über ihr Leben machte.
    Und ich? War ich auch nur mit Toni zusammen, weil es einfacher war, statt etwas Neues zu wagen? Liebten wir uns noch? Liebte
ich ihn
noch? Oder hatte ich mich in Oke verliebt? Was hatte mich dazu gebracht, nach mehr als fünfzehn Jahren Ehe einen anderen Mann zu küssen? Und wieso hatte ich mich dabei so gut gefühlt?
    In meinem Kopf ging es zu wie in einem Karussell: auf und ab und hin und her. Nie zuvor hatte ich mich gefragt, ob mein Leben eigentlich romantisch genug war. War ich ausreichend in der Welt herumgekommen, um für den Rest meiner Tage in Falkensee zu leben und mich um meinen Mann, meine Kinder und später vielleicht auch um meine Enkel zu kümmern? Konnte ich mein Leben genießen und jedem Tag etwas Besonderes abgewinnen? Oder hatte ich mir jahrelang etwas vorgemacht und warf Toni insgeheim vor, dass ich meinen Jugendtraum mit der Fotografie nicht verwirklichen konnte, weil ich schon während des Studiums schwanger geworden war? Betrog ich mich selbst mit der Ausrede, dass ich für einen Meister in Fotografie zu alt und so eine Ausbildung zu teuer sei? War ich überhaupt gerne Mutter?
    Bis Julia Roberts und Javier Bardem sich endlich in den Armen lagen, weil sie erkannt hatte, dass er der einzig Wahre und das wirklich Wichtige für sie war, hatte ich jeden Überblick über mein eigenes Leben verloren. Ich fühlte mich entsetzlich und war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, sofort nach Falkensee zu fahren – oder nie wieder nach Hause zurückzukehren und in einer fremden Stadt im sonnigen Ausland ein neues Leben zu beginnen.
    Eine Weile blieb ich noch im Dunkeln sitzen, bevor ich mich wieder in meinen Mantel hüllte und in die Kälte Nordfrieslands hinausstapfte.

[zur Inhaltsübersicht]
    10. Kapitel
    Ganz leise schlich ich auf Zehenspitzen in Elissas Wohnung, um einem Gespräch mit ihr aus dem Weg zu gehen. Vergeblich, denn Elissa lag hellwach und strahlend in meinem Bett und erwartete mich.
    «Ilse Bilse, keiner will se, kam der Koch, nahm se doch! Schätzchen, hattest du eine tolle Nacht? Wundert mich, dass du vor Anbruch der Dunkelheit hier auftauchst. Ich bin so gespannt auf deinen Bericht, ich konnte einfach nicht mehr schlafen.»
    Überrascht fuhr ich zusammen, hatte mich aber schnell wieder unter Kontrolle. «Elissa! Noch einmal alles Gute zum Geburtstag. Hast du mein Geschenk schon ausgepackt?»
    Weil ich die flauschige Kaschmirjacke nicht auf dem großen Party-Geschenketisch ablegen wollte, hatte ich sie in Geschenkpapier eingewickelt auf Elissas Bett gelegt, bevor ich zur Feier aufgebrochen war.
    Aber ich hätte es besser wissen müssen: Meine Freundin war an ihrem Geschenk ebenso wenig interessiert wie an der Wettervorhersage für die kommenden Tage. «Ach, scheiß auf das Geschenk, ich will ganz genau wissen, was zwischen dir und Oke letzte Nacht gelaufen ist und wie es weitergeht.»
    Ich ließ mich neben sie auf das Bett fallen. Gegen meinen Willen begann ich zu weinen. «Das ist doch alles eine

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