Mein Leben in 80 B
beenden.
«Ja. Mir geht’s wunderbar. Viel Spaß beim Backen und gib Tom einen Kuss von mir. Er soll nicht alle Kekse aufessen, damit ich auch noch probieren kann.»
Etti lachte. «Falls überhaupt genug Teig zum Ausrollen übrig bleibt. Wenn es nach deinem Sohn ginge, dann könnten wir einfach den rohen Teig ausstechen und in die Plätzchendosen legen.»
Oma Etti legte auf, ich schob das Handy wieder in die Tasche und schaute mich um.
Ich stand an einer Straßenecke irgendwo auf Sylt.
Okes Haus war weiß und offenbar frisch gestrichen. Links und rechts davon befanden sich weitere kleine Mehr- und Einfamilienhäuser aus den siebziger Jahren, zum Teil mit Balkonen, zum Teil mit großen Gärten davor. Im Sommer war es sicher schön, hier zu sitzen und zu versuchen, das Meeresrauschen zu hören. An einem klirrend kalten Tag wie heute wollte man nur ins Warme. Der Wind pfiff förmlich um die Ecken, und ich ärgerte mich, dass ich keine Mütze eingepackt hatte. Das war meinem Brummschädel nicht gerade zuträglich. In einigen Vorgärten standen mit Lichterketten geschmückte Weihnachtsbäume, in einem sogar ein leuchtender Elch auf dem Rasen. Im Haus nebenan wurden die Urlauber von einem großen Weihnachtsmann aus Holz begrüßt, der neben der Eingangstür stand und ein «Frohe Weihnachten»- und ein «Gutes neues Jahr»-Schild in der Hand trug. Ich versuchte, irgendetwas zu entdecken, das mir bekannt vorkam. Schließlich holte ich noch einmal tief Luft und lief dann die Straße einfach in eine Richtung hinauf, ohne zu wissen, wo ich gerade war. Nach einigen Minuten erreichte ich eine Querstraße, die ich zum Glück schon einmal gesehen hatte. Auch heute, am Sonntag, waren reichlich Autos und Radfahrer unterwegs, denn es war zwar klirrend kalt, aber die Sonne hatte sich vorgewagt und sorgte für ein ganzes Arsenal an geschmacklosen Sonnenbrillen unter hochgeföhnten Haaren und Fellmützen, die auch einem Russen zur Ehre gereicht hätten. Je weiter ich ging, desto dichter drängten sich die Touristen. Um einen Straßennamen zu finden, den ich dem Taxiunternehmen mitteilen konnte, trottete ich langsam zur nächsten Häuserecke. Strandstraße. Ich wusste, dass das eine Parallelstraße zur Einkaufsstraße in Westerland war, zu Elissa war es also gar nicht weit. Ich konnte auf der Strandpromenade weitergehen und mir tüchtig das Hirn durchpusten lassen. Irgendwo unterwegs gab es sicher auch einen starken schwarzen Kaffee zum Mitnehmen, eine Toilette und ein kaltes basisches Wasser gegen den Kater. Ich kuschelte mich tief in meinen Mantel. Etwas mehr frische Luft und etwas mehr Zeit zum Nachdenken würden mir sicher guttun. Scheiß auf das Taxi.
***
Ich fand mich schließlich in einer Nachmittagsvorstellung im Kino wieder. Zuerst war ich auf dem Weg zu Elissas Wohnung doch in die falsche Richtung gelaufen. Dafür war ich auf ein Café gestoßen, wo ich endlich auf die Toilette gehen und einen Kaffee kaufen konnte, um mir unterwegs wenigstens die Hände zu wärmen.
Die ganze Zeit versuchte ich, den vorigen Abend mit Oke zu rekonstruieren. Ich wusste noch, dass wir schließlich doch getanzt hatten. Und dass ich immer mehr von dem Sekt getrunken hatte und später noch andere selbstgebrannte Spezialitäten.
Als mir eine leere Hamburgerverpackung vor die Füße wehte, fiel es mir wieder ein: Irgendwann, fast schon zur Frühstückszeit, hatte Oke wissen wollen, ob ich Lust auf einen Burger oder eine Currywurst hätte, deshalb waren wir von der Party verschwunden. Und ich wusste auch wieder, dass der Bürgersteig vor dem Hotel wie die Glitschbahnen gewesen war, die wir als Schulkinder bei Frost mit heißem Wasser gemacht hatten. Mit meinen profillosen Sohlen und den vielen Schnäpsen im Blut wäre ich fast aufs Pflaster gesegelt, wenn Oke mich nicht festgehalten hätte. In diesem Moment waren wir uns plötzlich ganz nah gewesen.
Ich wanderte an spärlich beleuchteten und üppig dekorierten Schaufenstern vorbei und nippte an meinem Kaffee. Der warme Dampf des Getränks vertrieb die eisige Luft für einen Moment. So wie in der vergangenen Nacht, als wir in der klirrenden Kälte plötzlich Nase an Nase dagestanden hatten. So nah, dass ich Okes Körperwärme spüren konnte. Und dann küssten wir uns.
Auch der letzte Alkoholdunst in meinem Gehirn konnte nicht verhindern, dass mir dieser Moment nun wieder glasklar vor Augen stand. Ich hatte nicht eine Sekunde gezögert. Wenn ich recht überlegte, war der Kuss vielleicht sogar
Weitere Kostenlose Bücher