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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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unscheinbarer Vierklang, auf den ersten Blick. Und doch öffnen sich mit ihm im zweiten Takt Höllentor und Himmelspforte zugleich. Dieser Akkord, der sogenannte Tristan-Akkord, ist das Losungswort, der Code für die gesamte musikalische Moderne. Ein Akkord, der sich keiner Tonart zugehörig weiß. Ein Akkord an der Grenze zur Dissonanz. Ein Akkord, der für sich steht und schwebt und nirgendwohin strebt. Der Tristan-Akkord sucht sein Heil nicht in der nächstmöglichen Konsonanz, wie es die klassische Harmonielehre verlangt; der Tristan-Akkord ist sich selbst genug. Ganz wie Tristan und Isolde sich genügen und nichts kennen als ihre Liebe. Kein Eheversprechen, keine Treue, keine Vergangenheit, keine Angst, nicht einmal die vor dem Tod. Im Tristan-Akkord kristallisiert sich – wenn man denn die Biographie so pauschal über das Kunstwerk stülpen möchte –, was Wagner mit Mathilde Wesendonck im Leben nicht gegeben war, warum auch immer: dem Absolutheitsanspruch ihrer Gefühle zu gehorchen.
    Die Musikwissenschaftler sind in der Analyse und Exegese dieses Akkords bis heute zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt. Was soll er sein: ein alterierter Terzquartakkord, die Umkehrform eines Doppeldominantseptakkords mit tiefalterierter Quinte, ein Subdominantdreiklang mit sixte ajoutée oder gar ein verkürzter Dominantnonenakkord? Ich denke, dieses Stochern und Wühlen im theoretischen Werkzeugkasten zeigt vor allem eins: unsere Unzulänglichkeit. Und das gilt für die gesamte «Tristan»-Musik, die sich mit herkömmlichen Parametern kaum fassen lässt. Da existiert harmonisch keine Dur-Moll-Tonalität mehr und formal nicht der kleinste Rest der alten Nummernoper. Und auch dramaturgisch scheint der alte Konflikt zwischen dem Künstler und seiner sozialen Realität für einmal ausgeblendet zu sein. Stattdessen herrschen Chromatik und freier Kontrapunkt, und die Gesangsstimmen fügen sich fast instrumental ins symphonisch-opiatische Gewebe des Ganzen ein. Mit dem «Tristan» überschreitet Wagner eine Grenze, die erst ein halbes Jahrhundert später sichtbar wird. Der «Tristan» ist die Musik zu Freuds Psychoanalyse, zur Literatur Thomas Manns und die Initialzündung für das kompositorische Weiterdenken eines Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Alban Berg oder Claude Debussy. «Was in dem inneren Menschen vorgeht, wird hier der wichtigste Teil der Handlung», notiert Wagner für seine Verhältnisse fast schlicht. In Cosimas Tagebuch von 1870 findet sich das dazugehörige Kompositionsprinzip: «Im Wagen spricht R. von der Zusammensetzung mehrerer Motive in der Musik; das Ohr vernimmt nur eines, aber die Beifügung der andren als Begleitung schärft und erhöht den Eindruck dieser einen gehörten Melodie ungeheuer.» Musik als Ausdruck des Unbewussten, als Abbild unserer Erinnerungen, Träume und Ahnungen.
    Mit «Tristan und Isolde» glückt Wagner sein erstes reelles Gesamtkunstwerk. Der Praktiker profitiert offenbar vom Theoretiker, jedenfalls streift er hier jedes Korsett, jegliche Opernkonvention erfolgreich ab. Zum ersten Mal diktiert der Inhalt radikal die Form. Das Vorspiel heißt nur mehr «Einleitung» und geht selbstverständlich in die erste Szene über (ohne dass sich nach dem letzten Pizzicato der Celli und Bässe auch nur eine Hand zum Applaus zu rühren wagte), und überhaupt ist es schier unmöglich, aus dem Klangzusammenhang noch einzelne Passagen, geschweige denn «Arien», Ensembles oder dergleichen herauszulösen. Diese Partitur ist ein einziges Gespinst, ein Strom – von «schauerlicher und süßer Unendlichkeit» (Nietzsche).
    Schon beim «Lohengrin»-Vorspiel hätte man lieber, dass es nicht am Anfang, sondern am Ende des ersten Akts steht – die Musiker sind zu Beginn einer Vorstellung oft noch nervös, und die vielfach geteilten Instrumente hier sauber und präzise pianissimo spielen zu lassen, ist für den Dirigenten nicht leicht. Ein missratenes «Tristan»-Vorspiel aber kann einen ganzen Abend ruinieren. Klingt es beiläufig, droht Langeweile, eine Langeweile, die im ersten Akt nicht so ohne Weiteres korrigiert werden kann; klingt es überhitzt, verpulvert der Dirigent möglicherweise in den ersten zehn Minuten alle seine Kräfte. Der «Tristan» geht von null auf dreihundert, darin liegt seine Brisanz. Sein hochexplosives Material verlangt enormes Fingerspitzengefühl, wie beim Knacken eines Safes. Entweder man löst frühzeitig die Alarmanlage aus oder man trifft die richtige

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