Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Zahlenkombination.
Der «Tristan» war für mich von Anfang an das Königsstück. Ich sehe mich noch als Jugendlicher am Klavier sitzen und Brangänes Nachtruf spielen, ihr «Habet acht!» im zweiten Akt, nur die Harmonieverbindungen. Ich wollte begreifen, wie Wagner diese Klanghypnose erreicht – und weiß es, wenn ich ehrlich bin, bis heute nicht ganz. Auch hier lässt sich vieles klug analysieren, aber eben nicht alles. In seiner Autobiographie schreibt Wagner, dass er für die fünf Minuten des Nachtrufs fast zwei Wochen gebraucht habe. Sicher zwei unwirsche, schreckliche Wochen, bis er gefunden hatte, was er wollte. Bisweilen kommt Richard Wagner mir vor wie Doktor Jekyll und Mister Hyde: Die eine Seite seiner Persönlichkeit hat Visionen und taumelt von einem «wahnsinnig somnambulen Zustand» in den nächsten (Mr. Hyde), die andere konstruiert und parfümiert, mischt und verwirft, köchelt und schmeckt ab (Dr. Jekyll). Dass beide voneinander wissen, ist Teil des Genies.
Und noch ein Moment hat mich immer besonders fasziniert: wenn Tristan in seiner großen Rekapitulation im dritten Akt das Sonnenlicht beklagt, das Nicht-Sterben-Dürfen durch den Liebestrank, der ihm «Leiden» und «Qual» nur verlängere. «Für dieser Hitze /heißes Verschmachten /ach! keines Schattens /kühlend Umnachten!», sagt das Libretto, und die Holzbläser setzen nadelstichfeine Triolen dazu, pipipi pipipi pipipi pipipi , nur an dieser Stelle, als würde das Licht dem Helden die Netzhaut zerlöchern. Dazu die Streicher in wildester chromatischer Bewegung, halb tremolierend, halb zuckend, molto crescendo – kompositorisch ist das die pure Lust an der eigenen Virtuosität. Wie weit kann ich gehen, fragt Wagner sich hier, wie bringe ich die Welt am schnellsten um den Verstand? Nun: genau so. Durch dieses irre Notturno. Das ist der Paganini-Effekt, das Dämonische um seiner selbst willen, l’art pour l’art , einfach weil er es konnte.
So sehr mich die Sonnenstelle jedes Mal ergreift, so kühl muss mein Kopf bei den Tristan-Klagen bleiben. Deren Wellen schlagen über eine dreiviertel Stunde hinweg hoch und höher und wollen ganz organisch gestaltet sein, wie Ebbe und Flut, ohne dass die Musik stehenbleibt oder sich überstürzt oder dem Tenor mittendrin die Puste ausgeht. Dies ist die maximale Herausforderung: für meine Sensibilität, meine Konzentration, mein Wissen um das Ganze und meine Kraft. Nicht von ungefähr gilt der dritte Akt des «Tristan» in seiner Extremität als unerreicht (und findet seine Fortsetzung allenfalls im zweiten Akt des «Parsifal»).
Die Intensität, von der der «Tristan» handelt, entspricht also der Intensität, die Wagner den «Tristan»-Interpreten abverlangt. Das ist das Verrückte an diesem Stück, das Verführerische, Gefährliche, Teuflische und Heilige. Man darf es nicht zu oft singen, spielen oder dirigieren, und man sollte sich ihm stets mit großer Achtung nähern, mit Verehrung, Respekt, Hingabe, Liebe und mit ein bisschen Angst. Einerseits sind wir Interpreten davor gefeit, uns wie Tristan Gewalt anzutun, um in der eigenen Auslöschung Befriedigung und Erlösung zu finden; täten wir das, gäbe es keine Musik. Andererseits sind Musiker, die es ernst meinen, für eine gewisse Borderline-Symptomatik sicher anfällig.
Der erfolgreiche «Tristan»-Interpret braucht – paradox, aber wahr – einen Gemütspanzer, etwas, wovon er zehren kann, während die Wogen über ihm zusammenbrechen. Der erfolgreiche «Tristan»-Interpret ist der Apotheker, der den Schlüssel zum Giftschrank immer bei sich trägt. Der erfolgreiche «Tristan»-Interpret weiß, wie man Bomben sicher entschärft.
Aufnahmen
Mein letzter «Tristan» fand 2002 an der Wiener Staatsoper statt. Danach habe ich mir eine «Tristan»-Pause auferlegt, aus freien Stücken. Ich hatte plötzlich Angst, dass meine Lieblingsoper mich in psychische und emotionale Aggregatszustände versetzt, die mich mir selbst entfremden. Ein Gefühl von Leere und Erschöpfung machte sich breit, als hätte ich nichts mehr zu sagen, ja, nie mehr etwas zu sagen. Aus dieser Situation musste ich mich befreien. Meinen nächsten «Tristan» werde ich 2015 bei den Bayreuther Festspielen dirigieren. Die 13 Jahre Pause tun mir gut. Jedenfalls spüre ich langsam, wie sich meine Lust wieder regt. Und vielleicht werde ich diesmal alles anders machen.
Es gibt einen Mitschnitt dieser Wiener Produktion (Deutsche Grammophon), in dem der amerikanische Tenor
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