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Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Titel: Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Damien Echols
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und da habe er sich gedacht, er könne seine Zeit genauso gut konstruktiv nutzen. Diese Antwort war typisch für Mike. Nur das Ego brauche Schlaf, behauptete er. Er neigte auch zu Visionen. Einmal erzählte er mir, in einer Vision habe er erfahren, wenn er eine Woche faste, dürfe er sich mit einem Eis belohnen. (Es ist tatsächlich so, dass es im Gefängnis eine kleine Liste von Dingen gibt, die man sich kaufen kann, wenn jemand einem Geld auf sein Konto überweist.) Immer wenn man gerade sicher war, dass er den Verstand verloren hatte, tat er irgendetwas, das einen starr vor Staunen sein ließ.
    Ein Kurs in Wundern ist ein Buch mit Übungen, für das man ein Jahr braucht, wenn man alle Lektionen durcharbeitet. Es soll die Art und Weise verändern, wie das Gehirn von Geburt an zu denken programmiert ist. Man erfährt dann die Realität ganz anders, und alles wird möglich. Es beruht auf der Quantenphysik, verwendet aber eine biblische Terminologie. In den letzten Jahren ist es ziemlich populär geworden, und überall im Land gibt es Studiengruppen, die sich mit dem Kurs in Wundern beschäftigen.
    Mike hing jeden Tag vor meiner Zelle herum und saß auf einem Zwanzig-Liter-Eimer. Unser einziges Gesprächsthema war der Kurs in Wundern und wie das Buch mit der Kabbala des jüdischen Mystizismus zusammenhing. Die Kabbala studierten wir, als wir mit dem Kurs in Wundern fertig waren. Mike lernte bei einem Mann im allgemeinen Vollzug, und dann kam er zu mir und erklärte mir alles. Sie würden staunen, wie viele Schüler der verschiedenen Formen des Mystizismus Sie im Gefängnis finden können. Es handelt sich meist um Gefangene, die entschlossen sind, ihre Zeit dort zu nutzen und ihre Fehler nicht zu wiederholen. Diese Leute sind begierig nach einem Wissen, das man in der profanen Welt nicht findet; sie wollen lernen, und sie wollen weitergeben, was sie schon wissen. Als Mike in einen anderen Block verlegt wurde, setzte ich mein Studium noch eine Zeitlang allein fort.
    Als Nächstes nahm ich mir Philosophie und Praxis einer Organisation namens » Goldene Morgenröte « vor. Sie praktiziert metaphysische Übergangsrituale, mit denen die einzelnen Entwicklungsstufen des Bewusstseins markiert werden. Hier ging es um den beständigen Prozess des Lernens und Wachsens, den jeder durchmacht, und darum, wie man ihn beschleunigt. Der große Dichter W. B. Yeats war einer der bekannteren Jünger dieser Schule. Morgens, mittags und abends hatte ich die Nase in diesen Büchern.
    Viele Menschen spendeten Geld in einen College-Fonds für Jason und mich, und ich fing an, Seminare an einem College hier in Arkansas zu belegen. Anfangs interessierte ich mich vor allem für Psychologie, aber ich nahm auch andere Fächer dazu, zum Beispiel Soziologie und deutsche Lektüre. Die Psychologie mit ihren Experimenten und der Debatte über Erbanlagen versus Umwelteinflüsse fand ich unendlich interessant, aber ich glaube, das dürfte an dieser Stelle niemanden überraschen.
    Später erkannte ich, dass Psychologie doch nicht meine große Liebe war, sondern Geschichte. Heute liebe ich Geschichte mehr als jedes andere Fach, und ich glaube, man kann die Welt durch die Geschichte viel besser verstehen als durch die Psychologie, vor allem durch die Militärgeschichte. Anfangs stürzte ich mich auf jeden Aspekt und jede Epoche der Geschichte, aber nach und nach verengte sich das Spektrum, als ich merkte, wovon ich angezogen wurde.
    Besonders liebe ich die italienische Geschichte und hier vor allem die Geschichte der Städte Florenz und Venedig in der Zeit zwischen 1400 und 1800. Mein Vorbild ist Cosimo de’ Medici, aber mir gefällt auch sein Enkel Lorenzo der Prächtige. Was ich an der Zeit, in der die Medici an der Macht waren, so fesselnd finde, sind die gesellschaftliche Struktur und die Intrigen, die darin eine Rolle spielten. In aristokratischen Kreisen war das Leben ein Schachspiel. Man musste jedes seiner Worte sorgfältig wägen, und Gespräche waren voll von feinsinnigen Nuancen. Gesellschaftlicher Erfolg oder Untergang konnten davon abhängen, mit wem man beim Blickwechsel beobachtet wurde. Dazu die dekadenten Moden und Stile – niemand trug ausgebeulte Jeans und nach hinten gedrehte Baseballmützen. Heutzutage strengt sich in dieser Hinsicht niemand mehr an.
    Aber keine Routine und keine spirituelle Übung der Welt kann die Realität des Lebens im Todestrakt verschleiern. Ein normaler Mensch begeht keinen Mord. Fast siebzehn Jahre lang habe

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