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Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Titel: Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Damien Echols
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Er wird in ihrer Gegenwart immer wieder zum kleinen Jungen. Ich sehe andauernd solche Jungen mit einer unnatürlichen Mutterbindung. Es ist das Zeichen einer Zeit, in der keiner mehr erwachsen wird. Wir leben in verweichlichten Zeiten.
    Meine Mutter ist einfach unfähig zu besonders tiefen Empfindungen. Zumindest fühlt sie nicht so tief wie ich – weder Zorn noch Liebe noch Hass oder sonst etwas. Man kann sie beleidigen und ihr sagen, dass man sie hasst, und sie wird hochdramatisch reagieren, aber am nächsten Tag tut sie dann so, als wäre nichts geschehen. Mein Groll dagegen ist immer da, und meine Stimmungen sind keine Launen.

VIERUNDZWANZIG
    Mein Sternzeichen ist der Schütze, ein Feuerzeichen. Schützen sind bekannt für ihren Drang, in Bewegung zu bleiben, zu forschen und zu lernen. Genau wie das Feuer muss ein Schütze ständig Nahrung bekommen, sonst stirbt er. Seine Nahrung besteht aus einem steten Strom von neuen Erfahrungen. In einem Käfig gibt es nicht viele Möglichkeiten zu reisen. Jede Bewegung nach außen kommt vollständig zum Stehen. Man hat zwei Möglichkeiten: Man wendet sich nach innen und beginnt seine Reisen dort, oder man wird wahnsinnig.
    Im Gefängnis gibt es keine Zeit, wenn man sie nicht selbst erschafft. Die Leute draußen glauben anscheinend, im Gefängnis vergeht die Zeit langsam, aber das stimmt nicht. Die Wahrheit ist, die Zeit vergeht überhaupt nicht. Es herrscht ein ewiges Vakuum, und jeder Augenblick ist bedeutungslos, weil er keinen Kontext hat. Morgen kann genauso gut gestern sein. Darum wohnt dem Gefängnisleben so viel Stagnation inne – weil es keine Impulse gibt. Es gibt nur eine Möglichkeit zu vermeiden, dass man mit Haut und Haaren von Niedergeschlagenheit, Verzweiflung und Einsamkeit verschlungen wird: Man muss eine Routine entwickeln, an die man sich dann unter allen Umständen hält. Eine körperliche, eine geistige und sogar eine spirituelle Routine. Man vertreibt sich die Zeit nicht – man erschafft sie.
    Ich fing an, die Zeit dadurch zu messen, dass ich täglich dreißig Liegestütze machte und mich immer weiter vorantrieb, bis ich nach ein paar Jahren tausend schaffte. Ich fing mit zehn Minuten Meditation pro Tag an und trainierte mich, bis ich schließlich fünf Stunden meditierte. Nur indem ich diszipliniert, fokussiert und ehrgeizig wurde, konnte ich verhindern, dass ich in Entropie und innerem Tod versank.
    Eines der ersten Dinge, die ich von Ju San/Frankie und Gene erfuhr, war dies: Du musst deine Zelle in eine Schule und in ein Kloster verwandeln. Du wirst mindestens dreiundzwanzig Stunden am Tag allein in dieser Zelle verbringen. Nach meiner Verlegung war ich nur drei Stunden pro Woche nicht in meiner Zelle, nämlich wenn Lorri mich besuchte. Die meisten Leute ertragen es nicht, sich selbst von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, und deshalb werden sie laut und niederträchtig und suchen wie Paviane nach etwas Glänzendem, das sie ablenkt. Ablenkung Nummer eins ist das Fernsehen. Die meisten Häftlinge werden dick und formlos, weil sie endlose Stunden vor dem Fernseher verbringen. Sie gucken Football, Basketball, Baseball, Soaps, die Jerry Springer Show, Judge Judy und alles, was sonst noch über den Bildschirm flimmert. Sie sehen fern von morgens bis abends, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Wenn ich nicht zu einem hirntoten, schlurfenden, fettleibigen Neandertaler werden wollte, musste ich radikal verhindern, dass ich in einen solchen Trott verfiel.
    Ich wechselte in meinem Studium von einem Gebiet zum anderen, ich las theosophische Texte von Gene und buddhistische Texte von Ju San, und ich praktizierte eine Art christlichen Mystizismus, wie er in Ein Kurs in Wundern beschrieben wird. Mit dieser Schule des Denkens machte mich ein Mann namens Mike bekannt. Ich habe nie herausgefunden, ob dieser Kerl ein Genie oder ein Psychopath war. Er saß streng genommen nicht im Todestrakt, sondern war das, was man als » Porter « bezeichnete: Er hatte eine lebenslange Haftstrafe ohne Aussicht auf Bewährung, und seine Aufgabe war es, im Todestrakt für Sauberkeit zu sorgen. Fegen, wischen, Fenster putzen, Duschen schrubben, Staub wischen und so weiter – das war seine Arbeit.
    Eines Morgens gegen zwei wachte ich von einem scharrenden Geräusch auf. Als ich aufstand und nachschaute, sah ich Mike, der auf Händen und Knien den Boden mit einer Zahnbürste schrubbte. Als ich ihn fragte, was er da machte, erklärte er mir, er brauche keinen Schlaf mehr,

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