Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
notgedrungen neue Wege, uns zu verbinden, entdeckten. Sie ist der einzige Mensch, den ich je gekannt habe, der hartnäckig und willensstark genug ist, weiterzumachen, wenn alle anderen aufgeben und sich geschlagen davonschleichen. Wir mussten einander abwechselnd durch dunkles Gelände führen. Am Ende hat es uns geholfen, ein stärkeres Band zwischen uns zu schmieden als diejenigen, die immer unter demselben Dach zusammenleben. Wir sind zu einem einzigen Organismus zusammengewachsen.
Die Zeiten waren hart, aber auch magisch. Nie werde ich das Weihnachtsfest vergessen, das wir mit wehem Herzen am Telefon verbrachten, wo wir einander flüsternd die Geschenke aufzählten, die wir einander so gern überreicht hätten. Manchmal nehmen wir uns vor, irgendeine Fernsehsendung gleichzeitig zu sehen, als ob wir zusammen ins Kino gingen. Wir stimmen unsere Schlafenszeit aufeinander ab, sodass wir gleichzeitig ins Bett gehen und aufstehen. Wir sprechen den ganzen Tag miteinander. Ich denke beispielsweise an etwas, das sie gesagt oder getan hat, als sie das letzte Mal hier war, und plötzlich merke ich, dass ich über ihre Späße lache und laut sage: » Du Äffchen! « , weil ich für einen Augenblick vergessen habe, dass ich allein in einer Gefängniszelle sitze.
Ich neige dazu, im Besuchsraum umherzuschauen, um zu sehen, was andere tun oder worüber sie reden. Dabei kann man eine Menge Erfahrungen und Verhaltensweisen beobachten. Manche sind unglaublich glücklich darüber, mit einem geliebten Menschen zusammen zu sein, und andere tauchen mit großer Verspätung auf und benehmen sich, als wären sie lieber gar nicht hier.
Ein Vater kam jede Woche einmal in der Hoffnung, er könne seinen inhaftierten Sohn dazu überreden, die Revisionsanträge zurückzuziehen und dem Staat zu erlauben, ihn hinzurichten. Aus zwei Gründen hielt er das für eine ziemlich gute Idee. Zum einen meinte er, der Sohn handle nur so als Christenmensch, und der zweite Grund war, dass die Fahrt zum Gefängnis und wieder zurück für ihn sehr umständlich war. Angewidert wandte ich mich ab. Unfassbar, dass ein Vater sein Kind zum Selbstmord ermuntert.
Viele Besucher wirken verlegen, weil sie nicht wissen, was sie zu ihren Lieben sagen sollen. Sie schauen sich um, räuspern sich und fragen: » Was sagst du zu den Dallas Cowboys? « , weil sie denken, Football ist das einzige ungefährliche Gesprächsthema. Wenn die Besuchszeit zu Ende ist, springen manche auf und sind erleichtert, weil diese unangenehme Erfahrung ein Ende hat. Sie können es kaum erwarten, zu verschwinden. Andere umklammern die Hände der Gefangenen und umarmen sie, um einen letzten Kuss anzubringen. Ein paar weinen, wenn sie gehen, und mehrere lachen und verabschieden sich laut und ausgelassen. Manche der Gefangenen scharren mit den Füßen und schauen zu Boden, und andere starren ihren Lieben nach, bis sie nicht mehr zu sehen sind.
Manche Gefangenen und ihre Besucher bekommen nicht mal Gelegenheit, einander zu berühren, und müssen durch eine Glasscheibe miteinander sprechen. So war es bei Lorri und mir in den ersten drei Jahren unserer Beziehung, bevor wir schließlich die Erlaubnis bekamen, im selben Raum zusammenzusitzen. Manche Leute bekommen diese Erlaubnis niemals. Kinder schauen Väter an und können sie nicht umarmen, manchmal jahrelang nicht.
Meine Eltern trennten sich während meines erstes Jahres im Gefängnis wieder, beide blieben aber weiter in der Gegend von West Memphis und Marion wohnen. Mein Vater kam im ersten Jahr noch regelmäßig zu Besuch und brachte auch seine neue Frau mit. Aber nach 1997 hörten seine Besuche auf. Meine Mutter heiratete ebenfalls wieder, und sie kam mich in den ersten Jahren üblicherweise zwei oder drei Mal im Jahr besuchen. Öfter ging es nicht, weil sie es sich nicht leisten konnte. Sie hat nie ein Auto besessen, das mehr als ein paar hundert Dollar gekostet hatte, und deshalb hatte sie keine Möglichkeit, die weite Reise zum Gefängnis zu machen – wie sie sich auch den Besuch beim Tierarzt nicht erlauben konnte, als ihre geliebte Katze Streit mit einem Opossum bekam.
Bei einem ihrer Besuche saß sie mir gegenüber auf einem harten Plastikstuhl, aß langsam eine Tüte Schweinekrusten aus dem Automaten im Gefängnis und schilderte in allen Einzelheiten eine Amputation am Familienhaustier. Sie klang über alle Maßen stolz auf ihre Großtat, während ich auf meinem Stuhl hin und her rutschte und Mühe hatte, mich nicht heftig zu
Weitere Kostenlose Bücher