Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
ein, aber ich war diesem Strom näher als jemals seit meiner Kindheit. Trotzdem trennte mich irgendetwas noch von ihm. Ich hörte ihn am Horizont wie die ferne Sirene eines Zuges, aber ich fühlte ihn nicht. Ich brauchte etwas, das mich näher heranbrachte.
Ich weiß nicht, warum ich anfing zu laufen. Ich erinnere mich nicht mal, dass ich damit anfing, ich tat es einfach plötzlich. Da ich in der Zelle eingesperrt war, musste ich auf der Stelle laufen. Ich rannte so schnell, dass ich jedes Gefühl für die Zeit verlor. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein. Die Welt wurde schwarz, und alle Geräusche schienen vom anderen Ende eines sehr langen Korridors zu kommen. Am nächsten Tag tat ich es wieder, aber wegen der Blasen an meinen Füßen zog ich diesmal zwei Paar Socken an. Ich rannte, bis mir bewusst wurde, dass ich auf Händen und Knien zur Kloschüssel kroch und keuchte und würgte und in meinem eigenen Schweiß ausrutschte. Was schrecklich hätte sein müssen, war irgendwie schön. Es war eins der wundervollsten Erlebnisse meines Lebens. Ich fühlte mich allem Göttlichen näher als jemals in einer Kirche. Ich war mehr als zwei Stunden lang gerannt, ohne auch nur einen Schluck Wasser zu trinken, und ich hatte eine neue Welt entdeckt.
Am dritten Tag hatten meine Füße angefangen zu bluten. Kleine Tropfen waren überall auf dem Boden verschmiert, aber ich bemerkte sie erst später. Ich weiß nicht, wie es sein kann, dass Magick in einer gleichförmigen Bewegung des Körpers liegt, aber ich habe sie gefunden.
Es kommt vor, dass mein Geist schreit, mein Körper solle aufhören, und es könne nicht eine Sekunde lang weitergehen. Ich ignoriere es und treibe mich weiter über diesen Punkt hinaus. Nur indem ich jede Grenze überschreite, die Geist und Körper mir setzen, kann ich in den dunklen, tiefen Wassern schwimmen, die ich brauche. Von dort kommt alles, was sich zu haben lohnt. Der Schmerz beim Niederreißen meiner Grenzen ist es, der mir ermöglicht, den Strom nach Flaschenpost abzusuchen. Die Flaschen kommen den Strom herauf, und in jeder ist ein Geist. Ich weiß nicht, wer oder was sie hineinwirft, wenigstens noch nicht. Wer weniger neugierig oder ehrgeizig ist, murmelt jetzt einfach, Gottes Wege seien eben unergründlich. Aber ich will ihn in flagranti ertappen.
ACHT
Irgendwann kam Jason Baldwin fast jeden Tag nach der Schule mit zu mir, und dann saßen wir in meinem Zimmer, hörten Musik, redeten und lachten über andere Leute, bis wir einen fiebernden, manischen Pegel erreichten. So wild wie in diesen ersten Tagen habe ich nachher nie wieder gelacht. Es war ein Lachen, bei dem man komplett die Beherrschung verliert und umfällt. Jahre später sprechen Jason und ich über diese Zeit und versuchen uns zu erinnern, was da eigentlich genau so komisch war. Keiner von uns weiß es; wir erinnern uns nur, dass es die heiterste Zeit unseres Lebens war.
Bald schlief ich an jedem Wochenende bei Jason oder er bei mir. Wenn wir bei mir waren, blieben wir in meinem Zimmer, aßen Chips, tranken No-Name-Limo und hörten Heavy-Metal-Kassetten. Wir bemühten uns immer, leise zu sein, damit Jack uns nicht hörte. Beim leisesten Geräusch bekam er einen Wutanfall. Er hasste automatisch jeden, mit dem ich mich anfreundete, und gab sich alle erdenkliche Mühe, um uns allen das Leben ungemütlich zu machen.
Als ich das erste Mal bei Jason übernachtete, beschlossen wir, uns heimlich zu verdrücken. Das hatte ich noch nie getan, und deshalb ging es mehr um den Nervenkitzel als darum, irgendwo hinzugehen. Der Abend fing damit an, dass Jasons Mom Gail uns bei der Bowlingbahn in West Memphis absetzte und uns ausdrücklich verbot, irgendwo anders hinzugehen. Kaum war sie vom Parkplatz gefahren, verschwand Jasons kleiner Bruder Matt und machte sich auf die Suche nach anderen Vergnügungen. Jason und ich gingen hinein, um Pool zu spielen und mit all den anderen Nichtsnutzen herumzulungern. Es war ein Treffpunkt für Verwahrloste, und man sah Nackenspoiler, wohin man auch schaute.
Nachdem wir zwei Partien gespielt und die Leute aus der Gegend begrüßt hatten, beschlossen wir, Matt suchen zu gehen. Vielleicht war es da, wo er war, interessanter. Über die Parkplätze von Supermärkten und Einkaufszeilen gingen wir bis zum Walmart. Da würde er wahrscheinlich sein. Als wir schon mal da waren, besuchten wir die Musikabteilung, legten unser Geld zusammen und kauften das neueste Metallica-Tape, und dann setzten wir uns irgendwo hin
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